Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Universität im Hauptfach Wirtschaftswissenschaften zu studieren, wird ihre Qualifikation sogar innerhalb der Lehrerschaft in Zweifel gezogen: «Wahrscheinlich musste aus Gründen der
political correctness
ein farbiger Schüler dabei sein», spöttelt ein Lehrer herablassend vor der ganzen Klasse. Und bei der Schulabschlussparty wird die farbige Vorzugsschülerin von ihren weiÃen kanadischen Mitschülern einer Reihe von gedankenlosen Demütigungen ausgesetzt.
All das wird von David Chariandy nur beiläufig erwähnt. Der alltägliche Rassismus und die Bigotterien eines weiterschwärenden kolonialen Denkens sind nicht sein Hauptanliegen. Der Autor übergeht sie so, wie sein Held die dumpfen Leitartikel in der Zeitung überblättert, denn eigentlich geht es in seinem Roman, der im Original den geheimnisvollen Titel «Soucouyant» trägt, um anderes. SchlieÃlich ist Chariandy, der heute in Vancouver lebt, im Hauptberuf Literaturwissenschaftler:An der
Simon Fraser University
unterrichtet er englische Literatur mit den Schwerpunkten Kanada und Postkolonialismus.
In seinem Roman untersucht er am Beispiel zweier Generationen einer Immigrantenfamilie, wie Sprache und historische Erinnerung funktionieren, welche Rolle der Sprache und der Sprachbeherrschung eines Migranten am Ãbergang vom Herkunfts- ins Ankunftsland zukommt und wie Herkunftserinnerungen mit der Sprache und Kultur des Einwanderungslandes in Einklang zu bringen sind. Es geht also um das historische Gedächtnis, genauer: um dessen Verlust im Migrationsfall, und darum, was solcher Verlust für das Identitätsgefühl und das Selbstverständnis einer Zuwandererfamilie bedeutet.
David Chariandy spitzt sein Thema zu, indem er den Gedächtnisverlust pathologisiert: Die Mutter seines Ich-Erzählers erkrankt im mittleren Alter an frühzeitiger, an präseniler Demenz. Das befremdliche Verhalten der Mutter, ihr auffälliges und unberechenbares Benehmen in der Ãffentlichkeit bringt die Familie in der Nachbarschaft in Verruf; die Frau wird von den Kindern auf der StraÃe verhöhnt; die Nachbarn reagieren auf ihre Demenz teils verständnislos und ablehnend, teils rassistisch-aggressiv, nur gelegentlich und in Einzelfällen groÃherzig und mitfühlend. Die Krankheit zerrüttet die Familie, den Söhnen ist die Mutter so peinlich, dass sie von zu Hause flüchten.
So weit die Vorgeschichte. In der Gegenwartsebene des Romans, 1989, kehrt der jüngere Sohn zwei Jahre nach seiner Flucht voller Schuldgefühle ins Haus der Mutter zurück. Er will nicht nur aus schlechtem Gewissen der Mutter beistehen, er will auch ihr verschwindendes Gedächtnis festhalten, schon, um sich seiner eigenen karibischen Herkunft zu vergewissern. Einzelne Wörter und schattenhafte Erinnerungssplitter an ihre Kindheit und Jugend in Trinidad tauchen in den gemurmelten Selbstgesprächen der Mutter immer wieder auf. Das Wort «Carenage», das Wort «Soucouyant». Diese Wörter gehören zu ihrer Herkunftssprache, die sie verlernt hat, während sie die Sprache ihres Asyllandes nie richtig erlernt hat.
Es zeigt sich, dass die verschütteten Erinnerungen der Mutter einer anderen Dynamik gehorchen als seine eigenen. Indem der Sohn sich bemüht, die mütterlichen Erinnerungen wieder auszugraben,lässt er sich auf deren assoziative Logik ein, die sich auch in der rudimentären, erratischen Sprache abbildet. Mittels dieses einen Wortes «Soucouyant», das einen Dämon der karibischen Folklore, eine Art weiblichen Vampir bezeichnet, sucht der Sohn den karibischen Herkunftsaspekt in seiner eigenen und in der Identität seiner Mutter zu reaktivieren. Diese Spurensuche gilt letztlich dem Bemühen, das entschwindende Karibentum als historisches Erbe zu bewahren und in das eigene Selbstbild zu integrieren.
Kein Zweifel, dass dies dem Autor mithilfe seines Romans besser gelungen ist als seinem fiktiven Helden.
Erwähnte Bücher
David Bezmozgis «Natascha», Erzählungen (Kiepenheuer & Witsch 2005)
David Bezmozgis «Die freie Welt», Roman (Kiepenheuer & Witsch 2012)
David Chariandy «Der karibische Dämon», Roman (Suhrkamp 2009)
Rawi Hage «Kakerlake», Roman (Piper 2010)
Michael Ondaatje «In der Haut eines Löwen», Roman (Hanser 1987)
Doug Saunders «Die neue Völkerwanderung â Arrival City» (Blessing 2011)
Â
New York
«Warum
Weitere Kostenlose Bücher