Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
haben Sie Asyl beantragt?» Das ist die erste Frage, die dem Migranten an der Schwelle zu seinem Zufluchtsland gestellt wird. Es ist zugleich die wichtigste Frage. An ihrer Beantwortung hängt das Schicksal des Asylsuchenden. Und da der Flüchtling die Sprache seines Zufluchtslandes zumeist nicht â noch nicht â beherrscht, ist er auf eine Mittlerfigur angewiesen, die ihn anhört und seinen Fall übersetzt und den Asylbehörden vorträgt.
In Michail Schischkins Roman «Venushaar» wird diese Mittlerfigur nur «Der Dolmetsch» genannt. Er ist die Erzählerstimme des Romans, und er ist gebürtiger Russe und lebt in der Schweiz. Als Ãbersetzer im Dienst der Schweizer Einwanderungsbehörden assistiert er bei der Befragung von russischsprachigen Asylbewerbern durch die Kantonspolizei im Auffangzentrum Kreuzlingen, der «Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung». Der Dolmetsch (hinter dem unschwer der Autor Schischkin selbst zu erkennen ist) erfragt und protokolliert die Lebensgeschichten der Asylsuchenden, die hier auf gut Schweizer Bürokratendeutsch nur «Gesuchsteller», kurz: «GS» genannt werden. Die Interviews laufen nach einem immer gleichen Schema ab und beginnen mit der Formel: «Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.»
Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit der Verfolgungsgeschichte, die der Flüchtling bei der Befragung auftischt. Der zuständige Sachbearbeiter, bei Schischkin beziehungsvoll Petrus, der «Schicksalslenker»,genannt, weil er den Zugang zum Asylhimmel reguliert, ist ein abgebrühter Skeptiker. Dieser Petrus glaubt grundsätzlich keinem Flüchtling seine Legende: alles nur «Schauergeschichten, Gruselmärchen und Räuberpistolen». Und alle, so seine Ãberzeugung, «lügen wie gedruckt. Schinden Mitleid. Wollen ins Paradies.»
Auch in dem Roman mit dem hübsch doppeldeutigen Titel «Die undankbare Fremde» von Irena Brežná steht eine Dolmetschergestalt im Mittelpunkt. Sie ist wie die Autorin selbst in der Tschechoslowakei geboren und nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 in die Schweiz emigriert. Die Protagonistin des Romans dolmetscht sogar aus drei Sprachen. Sie gehört zum «internationalen Heer sprachlicher Stundenlöhner», die im Dienste der Schweizer Migrationsbehörde die Lebensgeschichten von Asylbewerbern nach dem immer gleichen Befragungsmuster übersetzen, ganz ähnlich wie Schischkins Dolmetsch.
«Ich bin hier ein Dolmetscherautomat», denkt die Ich-Erzählerin, die sich selbst als prototypische Emigrantin empfindet («Ich heiÃe Emigrazia. Meine Heimat ist Ausländerin») und aus eigener Erfahrung «das seelische Hinken der Entwurzelten aller Länder» nur allzu gut kennt. Ihr wurde eingeschärft, dass sie verpflichtet ist, «das Gesagte gewissenhaft wiederzugeben. Für vorsätzlich falsches Ãbersetzen gibt es eine mehrjährige Freiheitsstrafe.» Sie dolmetscht Verfolgungsgeschichten, die von Bestialitäten nur so strotzen, an deren Ende aber trotzdem meist auf ungerührt Schweizer Deutsch die «Ausschaffung» der Asylsuchenden steht. «Meine Landsleute haben eine viereckige Seele», seufzt eine mitleidige Schweizer Amtspsychologin, die daran aber auch nichts ändern kann.
In den Romanen der beiden Emigranten Schischkin und Brežná wirkt das Asylverfahren wie ein Erzählwettbewerb: Wer die dramatischste und haarsträubendste Geschichte glaubhaft machen kann, gewinnt vielleicht eine Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz. «Was im Protokoll über uns steht, das werden wir sein. Aus Worten geboren», so die Gesuchsteller. Und im Zentrum dieser literarischen Konkurrenz steht der Dolmetscher, der zwischen den Sprachen, Geschichten und Schicksalen von Fremden vermittelt, ohne selbst eingreifen zu dürfen,und dem nahegelegt wird, sich emotional herauszuhalten und das Elend nicht zu nahe an sich heranzulassen. Der Dolmetscher darf nicht zum Fürsprecher werden. «Sei eine Sprachfähre. Führe die Passagiere hinüber, lege ab und lösche ihre Gesichter aus dem Gedächtnis», wird Brežnás Ich-Erzählerin empfohlen.
Das ist in der Schweiz nicht anders als im klassischen Einwandererland, den USA. In New York, der paradigmatischen Ankunftsstadt in Amerika, landen Flüchtlinge, Asylsuchende,
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