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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Migranten aus aller Welt, und jeder kommt mit seiner Legende. Die Legenden sind immer wahr – sie beziehen sich bloß nicht immer auf ihre Erzähler. Alle diese Geschichten von Verfolgung, Vergewaltigung, Folter und Flucht sind irgendwann tatsächlich jemandem zugestoßen – möglicherweise aber jemand anderem als dem Asylbewerber, der die Geschichte für sich reklamiert. Zu dieser Erkenntnis ist schon Michail Schischkins Dolmetsch in Kreuzlingen am Bodensee gekommen, während er tagaus, tagein all die Erzählungen von Elend, Drangsal und Vertreibung zu protokollieren hatte. Ihm sagt ein Gesuchsteller ganz offen: «Mögen die Sprecher fiktiv sein, das Gesagte ist wahrhaftig. Gut, die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es!»
    Zu dieser Erkenntnis gelangt auch Jonas Woldemariam, der in einem Einwanderungszentrum in New York arbeitet, einer Einrichtung, die Flüchtlinge bei den Kniffligkeiten ihrer Asylanträge berät. Er hat bald bemerkt, dass die Berichte der Asylbewerber einander frappierend ähneln. Die Foltervarianten, die sich an politisch, ethnisch oder religiös Verfolgten verüben lassen, scheinen begrenzt, die Brutalitäten gleichen sich überall auf der Welt. Die Verfolgungslegenden sind stereotyp und daher austauschbar: Sie treffen auf Opfer in aller Welt zu, und es gibt kaum Unterschiede. Wenn man die Namen der Länder und manchmal auch die Religion ändert, könnte man ein und dieselbe Geschichte so gut wie jedem Flüchtling zuschreiben. Jonas erkennt: «Wenn man darüber nachdenkt, sind die Geschichten im Grunde alle gleich.»
    Jonas ist der Held und Ich-Erzähler des Romans «Die Melodie der Luft» von Dinaw Mengestu, einem gebürtigen Äthiopier, der im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie aus Addis Abeba in die USA flüchtete,in Illinois aufwuchs und an der
Georgetown
und der
Columbia University
Literatur studierte. Schon für seinen Roman-Erstling «Zum Wiedersehen der Sterne» heimste Mengestu viel Lob ein (siehe das Kapitel «Das Rätsel der Ankunft: Jenseits von Afrika»). Auch mit «Melodie der Luft», seinem zweiten Roman, bleibt Mengestu bei seiner Grundtonart – in melancholischen Moll-Tönen erzählt er skeptische, selbstzweiflerische Immigrantengeschichten vom Nicht-Ankommen-Können und In-der-Luft-Hängen.
    Sein Held Jonas, der Sohn äthiopischer Einwanderer, driftet durch sein amerikanisches Leben, ohne darin wirklich Fuß zu fassen; doch auch die äthiopische Herkunftskultur seiner Eltern kann ihm keinen verlässlichen Halt mehr bieten. Wollte er ganz Amerikaner sein, müsste er seine Herkunft und die Geschichte seiner Eltern energisch vergessen. Aber zugleich wäre es Verrat, sich von seiner Herkunft, die ihn geprägt hat, abzuwenden. In diesem unauflösbaren Widerspruch lebt er – seltsam lethargisch, antriebs- und teilnahmslos. Seine Gleichgültigkeit ist der Schutzpanzer eines Luftwurzlers, der sich überall fremd fühlt und sich auf nichts einlassen kann und will. Seine Ehefrau, eine ehrgeizige afroamerikanische Anwältin, wirft ihm vor, er habe keine richtige Identität. Und in der Tat: Jonas weiß nicht, wer er ist. Doch was genau ist das – Identität?
    Identität ist vornehmlich ein Herkunftsnarrativ. Wie prekär es um solche Herkunftslegenden bestellt ist, das erlebt Jonas tagtäglich an den Leidens- und Verfolgungsgeschichten, die er in seinem Beratungszentrum von Asylbewerbern zu hören bekommt. Welche sind echt? Welche erfunden? «Wer aus dieser planlos umherziehenden Schar war Afghane, Pakistani, Sudanese», fragt sich Jonas, «und wer tat nur so, weil er wusste, dass es das Asylverfahren erleichterte?»
    Doch neben durchtriebenen gibt es auch unbeholfene Flüchtlinge. Entsprechend unbeholfen sind auch ihre Legenden – meist schmucklose, oft brutale Schilderungen, denen einfach der Schliff fehlt, um sie für die Beamten der Einwanderungshörde lebendig und nachvollziehbar zu machen. Jonas beginnt also damit, ungeschickten Asylsuchenden auf die Sprünge zu helfen, indem er ihre Biografien dramatisiert, sie mit allerlei frei erfundenen Terrorerlebnissen und Folterdetailsanreichert, kurz: sie nach den Erwartungen der Einwanderungsbehörde hinbiegt. Und deren Erwartungen sind klischeehaft, merkt Jonas: «Ich kam schnell dahinter, dass man alles nicht Überprüfbare einfach

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