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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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erfinden konnte, indem man sich an die Vorstellung hielt, die wir meistens von den Armen in fernen, fremden Ländern haben.»
    Was auch immer das individuelle Schicksal des Migranten gewesen sein mag: Wenn er die Asylbehörden günstig stimmen will, müssen die Stichworte Verfolgung, Vertreibung und Folter in seinen Lebenslauf eingeschrieben werden. Seine ureigene individuelle Lebensgeschichte verdunstet hinter der erfundenen, die mit den Erwartungen übereinstimmt; die Fiktion ist stärker, die glaubhafte Lüge erweist sich als die höhere Wahrheit. Da Jonas ein Literaturstudium hinter sich hat, bereitet ihm das Fiktionalisieren von Lebensläufen keine Mühe. Er lügt mit Leichtigkeit und Eleganz, beim zweckdienlichen Erfinden von Biographien empfindet er nicht die geringsten Skrupel. Die erlogenen Asylanträge sind Fiktionen – aber gleichzeitig sind sie Realität.
    Das Erfinden, das Fiktionalisieren, das Lügen werden Jonas zur zweiten Natur. Auch im Privatleben. Er belügt sich selbst über seine Gefühle, er belügt seine Frau, er belügt seine Umwelt über seine Karriere-Aussichten, er belügt als Teilzeitlehrer an einer privaten
High School
seine Schüler, indem er ihnen eine frei phantasierte Geschichte über die dramatische Flucht seines äthiopischen Vaters so glaubhaft auftischt, dass alle darauf hereinfallen. Und all dies tut Jonas im klaren Bewusstsein, dass seine Lügen auffliegen werden und er es sich mit allen verderben wird, dass er im Grunde nur seinen eigenen Ruin herbeiredet. Deutlich wird: Jonas will die Erwartungen seiner amerikanischen Umwelt gar nicht erfüllen – er will sie enttäuschen. In heimlicher Renitenz widersetzt er sich dem amerikanischen Credo des Vorwärtskommens und des Zukunftsoptimismus, er nimmt sein Leben nicht in die Hand, mit finsterer Genugtuung lässt er sich treiben, ein ebenso stiller wie trotziger Integrationsverweigerer.
    Dinaw Mengestu schreibt pessimistische Geschichten über missglückende Einwanderungen. Seine Romane sind leise Übungen in migrantischer Aufsässigkeit, kühle Absagen an den
American Dream
,Handbücher für den widerborstigen Immigranten. Darin trifft er sich mit dem um sechs Jahre älteren Gary Shteyngart, der seinerseits ein widerborstiges «Handbuch für den russischen Debütanten» geschrieben hat. Den Äthiopier aus Addis Abeba und den russischen Juden aus Leningrad verbindet nicht nur ihre parallele Einwanderungsgeschichte – beide sind im Kindesalter fast gleichzeitig in der
Arrival City
New York angekommen: Mengestu 1980 im Alter von zwei Jahren, Shteyngart 1979 im Alter von sieben Jahren, als er mit seinen Eltern wie viele andere Sowjetjuden von der Regierung Jimmy Carter freigekauft wurde. Was die beiden Autoren zudem miteinander gemein haben, ist eine tiefe Skepsis gegenüber allen amerikanischen Anpassungszwängen und Nötigungen zur Integration. Die literarischen Helden beider Autoren sind Migranten – unwillige Zuwanderer, die als Kinder ungefragt in ein Land gebracht wurden, in dem sie bis heute fremdeln. Diese Romanfiguren verwenden viel Findigkeit, Witz und auch Bosheit auf immer neue Verweigerungsstrategien und sind hauptsächlich damit beschäftigt, sich dem Assimilationsdruck zu entziehen.
    Im literarischen Temperament allerdings könnten Mengestu, der pessimistische Melancholiker, und Shteyngart, der aufgedrehte Satiriker, unterschiedlicher nicht sein. Von seinem Debüt an gilt Gary Shteyngart als großes komisches Talent, als Experte für anarchischen Humor und als Globalisierungskritiker mit einem Faible für zusammenbrechende Supermächte, dem insbesondere der Kollaps des sowjetischen Imperiums und dessen poststalinistische Konkursmasse großartige Vorlagen für fulminante Gesellschaftsgrotesken und Globalisierungsfarcen liefern. Shteyngart hat nicht nur ein sehr selbstironisches Verhältnis zum Judentum; er liebt es auch, die üblichen Erwartungen an Migrationsliteratur lustvoll zu torpedieren. Während sich Mengestus Romanhelden angewidert vom Amerikanischen Traum abwenden, üben sich Shteyngarts Protagonisten in kichernder Subversion. Deren Assimilierungsversuche in den USA gehen programmatisch schief – auf haarsträubend groteske Weise und in wüster Umkehrung aller amerikanischen Glaubenssätze vom Aufstiegsethos strebsamer und integrationsfreudiger Einwanderer.
    Ein solcher

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