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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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modellhafter Nicht-Aufsteiger ist beispielsweise VladimirGirshkin in Shteyngarts Roman-Erstling. Er ist der titelgebende russische Debütant in Amerika. Als «Bilderbucheinwanderer und Bilderbuchausländer» stellt Shteyngart den jungen Girshkin (das Gürkchen) gleich auf der ersten Romanseite ironisch vor – das Gürkchen wird einen Roman lang alles Erdenkliche tun, um dieses Etikett zu widerlegen, wird damit am Ende allerdings glorios scheitern.
    Auch Girshkin arbeitet eingangs, ähnlich wie Jonas Woldemariam bei Dinaw Mengestu, in einem New Yorker Beratungszentrum für Asylsuchende und Einwanderer. Girshkin ist Bürohilfskraft im «Emma-Lazarus-Verein zur Förderung der Immigrantenintegration», einer Institution, die ihre Klienten «mit den vertrauten fleckigen Wänden einer tristen Behörde in der Dritten Welt» anzuheimeln versteht. Eine Schar von «ausgebildeten Assimilationsmoderatoren» trachtet danach, mindestens im Wartezimmer den Frieden unter einwandernden Türken und Kurden, Hutus und Tutsis, Serben und Kroaten zu wahren. Als «Akkulturationszar der Agentur» gilt ausgerechnet «ein heimwehkranker, suizidaler Pole», und dem jungen Girshkin fällt es zu, sich der russischen Problemklienten beratend anzunehmen, der «sowjetischen Juden in Bedrängnis», darunter etliche völlig durchgeknallte Typen.
    Girshkin ist ein «Amateur-Assimilierer», ein Pendler zwischen einer Ost- und einer West-Identität, ganz im Gegensatz zu seinen tüchtigen Eltern, die es geschafft haben, mustergültige Neu-Amerikaner mit einem Anwesen im New Yorker Speckgürtel zu werden, die Mutter als international agierende Unternehmerin, der Vater als Arzt, der erfolgreich die Krankenkassen betrügt. Der Sohn hingegen krebst, statt zu studieren und Anwalt zu werden, nun schon vier Jahre lang für acht Dollar die Stunde bei seinem gemeinnützigen Verein herum, ehrgeiz- und antriebslos, ein kleiner Versager, ein «Failurchka», wie Mutters englisch-russischer Lieblingsspitzname für den Sohn lautet. Gegen die Karrierezumutungen seiner Eltern leistet das Gürkchen passiven Widerstand, indem es ostentativ keine Karriere macht.
    Â«Handbuch für den russischen Debütanten» ist ein Schelmenroman und funktioniert nach der Umkehrmethode: Alle Erwartungen an einen erfolgreichen Kulturwechsel vom Sowjetmenschen BreschnjewscherProvenienz zum geldhörigen Konsum-Amerikaner werden von Shteyngart mit paradoxen Mitteln düpiert. In der ersten Hälfte des Romans, die in New York spielt, verkehrt Girshkin alle Hoffnungen auf den Amerikanischen Traum in ihr Gegenteil. Die zweite Hälfte des Romans hingegen zeigt, wozu Failurchka, der Kummer seiner Eltern, imstande ist, wenn er auf das richtige Milieu trifft, um seine migrantischen Talente zu entfalten.
    Im zweiten Teil versetzt Gary Shteyngart seinen Nicht-Helden in die fiktive mitteleuropäische Stadt Prawa, in der unschwer das postsozialistische Prag der Nachwendezeit zu erkennen ist. Im Roman ist Prawa die goldene Stadt des neuen Europa-Tourismus, Traumziel der amerikanischen Jeunesse dorée. Prawa ist aber auch der Europa-Stützpunkt der Russen-Mafia, die beim Gründungsboom im Vorfeld der EU-Erweiterung mitmischen möchte. Im Handumdrehen verwandelt sich der Versager Girshkin in Prawa in einen kriminellen Geschäftsmann, einen Investment-Jongleur und Schwindel-Unternehmer, der eine fulminante Gangsterkarriere macht und schließlich zum Kopf der russischen Mafia avanciert. Er zieht ein Betrugssystem großen Stils auf, um reiche amerikanische Bürger auszunehmen. Plötzlich kommt dem Gürkchen sein doppeltes Außenseitertum als Ex-Russe und Noch-nicht-Amerikaner zugute: Er kennt Ost und West gut genug, und er beherrscht beide Sprachen gut genug, um beide Seiten hereinlegen und übertölpeln zu können.
    Damit entpuppt sich «Handbuch für den russischen Debütanten» als ein Leitfaden durch die Ost-West-Labyrinthe nach dem Ende der großen System-Konkurrenz des Kalten Kriegs, als satirische Anleitung für den posthistorischen Krisengewinnler, der mit amerikanischen Businessmethoden die postsowjetische Konkursmasse in Mittel- und Osteuropa zugleich modernisieren und sich dabei vulgär bereichern will.
    Der Roman, der so viele ironische und selbstironische Volten schlägt, wartet für die Schlussvolte mit einem besonders sarkastischen Dreh auf, um den

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