Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Unersetzbarkeit).»
Hinzu kommt das afrikanische Erbe der Mythen und Legenden, das die schwarzafrikanischen Sklaven auf den karibischen Plantagen, wie verstümmelt und verschüttet auch immer, am Leben erhielten. Der indokaribische Autor V. S. Naipaul, der selbst aus Trinidad stammt, beschreibt diese kreolisierte Doppelwelt in einem seiner Essays: «Die Sklaven auf den Plantagen in der Karibik hatten zwei verschiedene Welten gekannt. Es gab die Welt des Tages: das war die weiÃe Welt. Es gab die Welt der Nacht: das war die afrikanische Welt, mit ihrer Magie,ihren Geistern, ihren wahren Göttern. In dieser Welt verwandelten sich tagsüber zerlumpte Erniedrigte â in ihren Augen und denen ihrer Gefährten â in Könige, Hexer, Heiler, Wesen, die Verbindung mit den wahren Kräften der Erde hatten und absolute Macht besaÃen. Dem Uneingeweihten, dem Besitzer der Sklaven, mochte die afrikanische Nachtwelt wie eine Welt des Scheins, eine kindische Welt, ein Karneval erscheinen. Aber für den Afrikaner war sie die einzige wahre Welt, die die WeiÃen in Phantome verwandelte und das Plantagenleben zu einer bloÃen Schimäre machte.»
In dieser opaken und schillernden Uneindeutigkeit erweist sich die Karibik als privilegierter Ort für kulturwissenschaftliche Theorieproduktion, um aus der von Glissant vorgeschlagenen Denkfigur der Kreolisierung universale Kategorien für ein weltweites Kulturmodell zu entwickeln. Kreolisierung meint Berührung, Begegnung oder wechselseitige Transformation unterschiedlicher Kulturen, eine schöpferische Aneignung kultureller Vermischungen bei gleichzeitiger Achtung und Bewahrung von Vielfalt und Heterogenität.
In der Tat ist die Karibik eine vielfältige Schnittstelle, ein Kreuzungspunkt der Kontinente. Mit ihrer kolonialen Vergangenheit und ihrer Plantagen- und Sklavenwirtschaft ist sie nach Afrika orientiert, hat aber auÃerdem Bindungen nach ganz Lateinamerika. So ist die Karibik ausgespannt in ganz unterschiedlichen Kontexten, ein «Stückchen Erde, auf dem Frankreich, Afrika und Amerika sich begegnen», wie Milan Kundera in einem Essay über Martinique und die kreolische Volkskunst schreibt. Inzwischen hat das Konzept der Kreolisierung längst die Seminarstuben der «Postcolonial Studies» verlassen und ist weltweit verhandelbar geworden. Damit eröffnet sich den Englisch oder Französisch schreibenden karibischstämmigen Autoren ein ungeahnter Resonanzraum. Er wird sich in den kommenden Jahren sicherlich noch vergröÃern.
Erwähnte Bücher
Irena Brežná «Die undankbare Fremde», Roman (Galiani 2012)
Junot DÃaz «Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao», Roman (S. Fischer 2009)
Ãdouard Glissant «Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen», Essay (Wunderhorn 1986)
Milan Kundera «Eine Begegnung» (Hanser 2011), darin der Essay «Schön wie eine mehrfache Begegnung»
Dinaw Mengestu «Die Melodie der Luft», Roman (Ullstein 2010)
Gesine Müller/Natascha Ueckmann (Hg.) «Kreolisierung revisited. Debatten um ein weltweites Kulturkonzept» (Transcript 2013)
Michail Schischkin «Venushaar», Roman (Deutsche Verlags Anstalt 2011)
Gary Shteyngart «Handbuch für den russischen Debütanten», Roman (Berlin Verlag 2003)
5. Kapitel
Bürgerkriege und Zerfallsgeschichten
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Der Libanon: «Yalo verstand nicht, was vor sich ging»
Man nehme irgendwelche jungen Kerle, vorzugsweise Schulabbrecher, gebeutelt von Testosteronschüben und Hormonstürmen und auch sonst nicht sonderlich gescheit. Man nenne sie Yalo, Bassam oder George und schicke sie auf die StraÃen von Beirut, in den Zeiten des Bürgerkriegs.
Nach diesem Rezept gehen die libanesischen Autoren Rawi Hage und Elias Khoury in ihren Romanen vor, in denen sie die Verwilderung einer Gesellschaft im Bürgerkrieg am Beispiel halbwüchsiger Jungen vorführen, die nicht recht wissen, wie ihnen geschieht, während sie immer mehr verrohen und immer tiefer in Verbrechen, Mord und Gewalt hineinschlittern. Die Zerrüttung aller zivilen Normen und der Zerfall des ganzen gesellschaftlichen Gefüges, wie sie der Bürgerkrieg der 1970er und 1980er Jahre im Libanon im GroÃen angerichtet hat, lassen sich im Kleinen an der Brutalisierung einzelner junger Burschen gut beschreiben, die von klein auf nichts anderes kennen als Krieg. Der Eingangssatz von Elias Khourys
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