Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
geworden, der sich seiner Herkunft, seiner Kindheit, seiner Mutter und sich selbst entfremdet fühlt.
Jetzt kehrt Elia vierzig Jahre nach dem Blutsonntag in sein Dorf zurück, um durch Nachforschungen bei den Ãberlebenden den genauen Tathergang des Massakers zu rekonstruieren. Das erweist sich als unmöglich. Jeder Gesprächspartner tischt ihm eine andere Version des Geschehens auf, die verfeindeten Clans geben einander wechselseitig die Schuld am Ausbruch der SchieÃerei. Wie genau Elias Vater in der Kirche zu Tode gekommen ist, wer ihn im Getümmel erschossen hat (Freund oder Feind?), lässt sich nicht (mehr) feststellen. Jeder von Elias Gesprächspartnern kennt «den Vorfall» nur vom Hörensagen, gibt jedenfalls anderen die Schuld. Was wirklich geschah, bleibt diffus.
Anderes hingegen lässt sich vom Familienforscher Elia ziemlich präzise ermitteln, nämlich Ursachen und Folgen dieser Clanfeindschaft im halb feudalen, von Warlords beherrschten christlichen Nordlibanon. Hinter der lokalen Familienfehde werden politische Spannungen im Vorfeld der betrügerischen Präsidentschaftswahlen von 1958 greifbar. Geschickt wechselt der Autor von Kapitel zu Kapitel die Erzählperspektive, lässt ein vielsplittriges buntes Kaleidoskop entstehen, rückt die Kontrahenten des Blutsonntags in Einzelporträts ins Zentrum und lotet die politisch-ethnischen Rahmenbedingungen aus, die diesen Dorfkrieg von auÃen bestimmen und steuern.
Demnach spielt Libanons labiler nationaler Proporzpakt zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen des Landes ebenso in den lokalen Konflikt herein wie der steigende Druck von auÃen, seitens der arabischen Nachbarn Ãgypten und Syrien. Der zunehmende arabische Nationalismus als Folge von Nassers ägyptischer Revolution sowie die Suezkrise von 1956 verschärfen die ohnehin kaum beherrschbaren inneren Konflikte des Libanon. Das Land wird zerrissen zwischen West-Orientierung nach Europa und Panarabismus (der Konflikt mit Israel wird später, nach dem Zustrom von PLO-Kämpfern ausJordanien, als weiterer Sprengstoff für den staatlichen Zusammenhalt des Libanon hinzukommen).
Hinter allem wird in Douaihys Roman der ganz groÃe weltpolitische Horizont sichtbar: der Kampf um Einfluss-Sphären im Nahen Osten zwischen den USA und der Sowjetunion. Dass dem west-orientierten christlichen Staatspräsidenten Camille Chamûn, wie im Roman erzählt wird, Wahlmanipulation vorgeworfen wurde, hatte unter anderem damit zu tun, dass sich die mit Ãgypten und Syrien sympathisierenden und dem Panarabismus zuneigenden Muslime des Landes unterrepräsentiert fühlten. Dadurch geriet das prekär austarierte politisch-konfessionelle System des Libanon aus dem Gleichgewicht. Und diese Veränderung der groÃen Machtbalance wirkt sich bis in Elias kleines Dorf aus.
Immer deutlicher wird im Roman: Das Kirchen-Massaker von 1957 war eine Generalprobe für den libanesischen Bürgerkrieg. Im Mikrokosmos der in Feindschaft zerfallenden Dorfgemeinschaft kündigen sich bereits die Spaltungen und wechselnden Koalitionen der späteren Bürgerkriegsparteien an. In «Morgen des Zorns» beginnt die Segregation zwischen den Familien schleichend. Auf einmal verkehrt jeder Mann nur noch mit den eigenen «Cousins». Die Ehefrauen beginnen, gegen die anderen Familien zu hetzen. Der Druck auf jeden Einzelnen, sich einem Familienverband anschlieÃen zu müssen, wird immer gröÃer: «So wurde aus der Blutsverwandtschaft eine drückende Verpflichtung», schreibt Douaihy. Jeder Dörfler fühlt sich plötzlich bedroht und kauft eine Pistole oder einen Revolver. Erst werden wie besessen Waffen gekauft, dann werden sie auch benutzt.
Im Kleinen vollziehen sich hier Zerrüttung und Zerfall einer ganzen Gesellschaft: Sie splittert sich auf in kampfbereite Fraktionen, die gegeneinander aufrüsten und schwer bewaffnete Milizen gegeneinander in Stellung bringen. Wie Jahre später die umkämpfte Hauptstadt Beirut, so spaltet sich auch die Dorfgemeinschaft in verfeindete Viertel auf, getrennt durch Demarkationslinien und von Milizkämpfern bemannte Barrikaden. «Als wir uns im Jahr 1958 hinter Barrikaden verschanzten, banden wir den Hunden und Eseln einen Dynamitgürtel um und schickten sie damit zu den gegenüberliegenden Linien, umdort den gröÃtmöglichen Schaden anzurichten. Doch schon auf halber
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