Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Strecke explodierte ihre Last durch die Schüsse von den gegenüberliegenden Stellungen, und die Hunde krepierten», heiÃt es im Roman.
Jabbour Douaihy ist ein Meister beklemmender Einzelporträts. So erzählt er etwa vom schweigenden Muhsin, der dreieinhalb Monate lang geduldig an seiner Barrikade Wache schiebt und auf seine Chance wartet: «Er richtete die Mündung seines Gewehrs auf die ungeschützte Ãffnung, an der die Männer der gegenüberliegenden Barrikade bei der Wachablösung vorbeischlüpfen mussten. Muhsin konnte erkennen, wie sie die Luke in aller Eile passierten. Ein Schatten nur, der da vorüberhuschte. Er wartete auf einen Tag, an dem einer seiner Gegner ungeschützt â und sei es nur für Sekunden â seine Barrikade bezog. Und so geschah es am 10. August um genau halb eins. Muhsin feuerte eine einzige Kugel ab. Mit einem einzigen Schuss aus seinem Gewehr streckte er den Gegner hin. Er traf ihn in den Kopf. Wenige Minuten später hörten wir auf der anderen Seite den Schrei einer Frau. Da erhob sich auf unserer Seite der Jubel.»
Soziale Stereotypen gewinnen plötzlich Macht in den Köpfen und ziehen Gewalt nach sich. Die Gefechtslinie, die das Dorf mitten entzweireiÃt, bringt jeden in Lebensgefahr, der sich auf der falschen Seite wiederfindet. Mischehen zwischen den Clans werden gewaltsam geschieden; alte Freundschaften über die Clangrenzen hinweg gelten nun als Verrat und werden gewaltsam beendet; der bloÃe Familienname entscheidet über Leben und Tod; Nachbarn und Ehefrauen fallen Pogromen zum Opfer, nur, weil sie den falschen Familiennamen tragen; wer sich neutral verhalten und aus der Blutfehde heraushalten will, wird umgebracht oder muss emigrieren.
So ergeht es beispielsweise dem Bäcker Samîh. Dessen Welt war die Backstube, das ganze Dorf war seine Kundschaft, Politik kümmerte ihn nicht. Doch nach der Aufspaltung des Dorfes befindet sich seine Bäckerei auf der falschen Seite, im Machtbereich der falschen Familie. Den Rat, sich seinem Clan anzuschlieÃen und umzuziehen, schlägt er aus: «Ich habe niemandem etwas zuleide getan, alle mögen mich, und alle zählen zu meinen Kunden.» Doch auf Neutralität kann sich in der allgemeinen Gewaltbereitschaft niemand mehr berufen, auch nicht einschlichter und allgemein beliebter Bäcker, der sich aus allem raushalten wollte. Samîh wird in dem Augenblick, da er die knusprigen Fladen aus dem Ofen holen wollte, von einem Mann erschossen, der dem anderen Clan angehört und irgendein leichtes Opfer sucht, um Blutrache zu nehmen. Denn so funktioniert die archaische Mechanik der Blutrache: «Für jeden Toten wird man zwei weitere umbringen.»
All das erschlieÃt sich Elia vierzig Jahre später durch seine Gespräche mit den Dörflern (sofern diese überhaupt gesprächsbereit sind). Er sammelt Informationen, füllt eine Kladde mit den Geschichten, die ihm diverse Clanmitglieder erzählen. Doch Elia ist ein unzuverlässiger Berichterstatter. In Amerika hat er sich immer so durchgemogelt, hat es zu nichts gebracht; er ist ein zwanghafter Schwindler, Lügner und Geschichtenerfinder. Jeder Frau, die er umwerben will, erzählt er eine andere erfundene Biographie. So sind möglicherweise auch die in der Kladde gesammelten Geschichten nur Fiktionen, nachträgliche Erfindungen, die sich die Dörfler aus Angst zurechtgelegt haben, weil sie lieber nicht genau hinschauen, es nicht wirklich wissen wollen. Ehe er in die USA zurückfliegt, lässt Elia die Kladde bei seiner Mutter liegen. Die Mutter, ohnehin blind, wird das Buch verbrennen.
Der Libanon erscheint in Jabbour Douaihys Roman als ein unsicheres Terrain, ein Transitland, seit jeher nur zeitweise bewohnt von Zugewanderten von anderswoher, aus dem Osmanischen Reich, aus Syrien, aus Palästina, aus Jordanien. Der Libanon kann seinen Einwohnern keine Heimat auf Dauer bieten. Aus eigener Kraft Frieden zu halten, haben sie nie gelernt. Aus eigener Kraft können die Dörfler nicht einmal die Spirale der Blutrache zum Stillstand bringen.
Jabbour Douaihy berichtet sachlich, wie das groÃe Morden im Dorf beendet wurde: «Das Militär traf im Ort ein. Aus Mitgliedern beider Parteien wurde ein Komitee ins Leben gerufen, das durch die StraÃen zog und den Abbau der Barrikaden überwachte. Das Feuer wurde eingestellt, die Anschläge aus dem Hinterhalt hörten auf. Der
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