Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
rechtsradikalen und rassistischen Partei «Vlaams Belang» bildet den ideologisch verengten und verhärteten Gegenpol zur ethnisch offenen Stadt New York. Die vielen Maghrebiner und Schwarzafrikaner, vor allem Kongolesen, auf den StraÃen Brüssels fallen Julius auf: «Die psychische Anspannung der Stadt war überall spürbar.» Er erkennt, dass hinter den misstrauischen Blicken der Einheimischen schwelende, kaum kontrollierbare Angst vor den Migranten steht: «Der fremdenfeindliche Blick, der in Einwanderern Konkurrenten im Kampf um knappe Ressourcen sieht, verschmolz mit einer erneuerten Angst vor dem Islam. Der Fremde ist zur Projektionsfläche für ein neues Unbehagen geworden.»
In einem Internet-Café in Brüssel trifft Julius den Marokkaner Farouq, einen brillanten Intellektuellen, der sich durch den Rassismus an der Universität um seinen Traum betrogen fühlt, ein arabischer Gelehrter vom Range Edward Saids zu werden. Dass seine Magisterarbeit über Kritische Theorie unter einem Vorwand abgelehnt wurde, führt er auf antimuslimische Ressentiments im Gefolge von
Nine Eleven
zurück.In den Streitgesprächen zwischen Julius und Farouq konkretisieren sich die transkulturellen Einsichten, aber auch die unterschiedlichen politischen Positionen zweier intellektueller Migranten von heute, die in allen Verzweigungen und Methodologien der postkolonialen Theorie beschlagen sind und über Differenz und Hybridität genauso locker parlieren können wie über Fela Kuti, den nigerianischen Musiker und Erfinder des Afro-Beat.
Farouq entpuppt sich als Agitator und radikaler Denker, für den die Palästinenserfrage «die zentrale Frage unserer Zeit» darstellt, während Julius die Wut und Gewaltbereitschaft junger arabischer Männer im Namen einer monolithischen Identität nur «vulgär und vergeblich» erscheint: «Es war eine Ignoranz, die wütende junge Männer überall auf der Welt kennzeichnete.» Solche wutgetriebene politische Rhetorik ist nicht Juliusâ Sache: «Krebsartig hatte sich die Gewalt in jede politische Idee hineingefressen. Aktionismus war Selbstzweck geworden und führte zu noch mehr Aktionismus. Und das beste Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Jugend für die eigene Sache zu gewinnen, war Wut.» Nach seiner Ansicht besteht die «einzige Möglichkeit, dieser Verlockung von Gewalt nicht zu erliegen, darin, kein Anliegen zu haben, fern jeglicher Loyalitäten zu bleiben, sich rauszuhalten». Julius stellt damit Ãberzeugung als politischen Modus ganz grundsätzlich infrage. Seine Leitfigur für seine Politik des Sich-Raushaltens ist der philosophierende Weltbürger Kwame Anthony Appiah mit seinem Buch «Der Kosmopolit».
Doch im Laufe des Romans mehren sich die geheimen Signale und Hinweise, dass mit dem angestrebten Selbstbild des Protagonisten eines überlegenen, detachierten und nicht involvierten, über den hitzigen Konflikten stehenden Weltbürgers etwas nicht stimmt. Julius ist nicht, was er zu sein glaubt. Manchmal überfällt ihn «das rasende Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu geraten». Zufällig trifft er in New York ein Mädchen wieder, das er in Lagos kannte. Auch sie hat es nach Amerika und in die oberen Bildungsschichten geschafft und arbeitet nun als Investment-Bankerin bei
Lehman Brothers.
Nach einer Party erinnert diese Frau Julius daran, dass er sie als Jugendlicher in Lagos einst betrunken vergewaltigt hat. Julius kannsich daran nicht erinnern. Der souveräne Flaneur erscheint plötzlich zwielichtig und ungut. Ihm selbst sind die dunkleren Schichten seines Ichs verborgen. Der angehende Facharzt für Psychiatrie kennt die eigene Psyche nicht. Er muss sich fragen: «Was bedeutet es, wenn man in der Geschichte eines anderen Menschen der Bösewicht ist?» Und mit einem Mal gilt das Dogma nicht mehr, das er früher für sich selbst postuliert hatte: «Vielleicht verstehen wir das unter geistiger Gesundheit: dass wir uns selbst, so verschroben wir uns auch finden mögen, niemals als die Bösewichte unserer eigenen Geschichte wahrnehmen.»
So fällt zuletzt auf den paradigmatischen Weltbürger Julius ein tiefer moralischer Schatten. Damit rückt Teju Cole allerdings auch Kwame Appiahs schönen und kultivierten Essay über «Cosmopolitanism», in dem er, wie es der Untertitel des amerikanischen Originals verspricht,
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