Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
prangerten sie nicht an.»
In der Geschichte «Das Sterben der Kamele» finden sich die wandernden Stämme, die wie jedes Jahr im Herbst mit ihren Karawanen aus dem afghanischen Hochland nach Pakistan hinuntersteigen wollen, plötzlich von Grenzsoldaten aufgehalten. Nie hatten sie Reisedokumente. Nun sollen sie auf einmal Pässe vorzeigen, dabei haben sie nicht einmal Geburtsurkunden oder Ausweise. Sie werden zur Rückkehr gezwungen, wiewohl das Ãberwintern im Hochland ihren Tod bedeutet. Ihren halb verdursteten Herden wird der Zugang zu den Wasserlöchern gewaltsam verwehrt. Die Stämme versuchen, den Zugang ins Tiefland zu erzwingen und werden wahllos erschossen. Die Kamele krepieren zu Tausenden. Eine Frau, Gul Jana, hält sich zum Schutz den Koran über den Kopf, im Glauben, so könne ihr nichts geschehen. Sie stirbt im Kreuzfeuer, wie alle anderen Männer, Frauen und Kinder: «Mit ihnen starb auch Gul Janas Glaube, der Koran könnte eine Tragödie verhindern.»
Dass sich in diesem Konflikt zwischen Staat und Nomaden zwei Wertewelten unversöhnlich gegenüberstehen, zwischen denen kein Ausgleich möglich ist, macht die Erzählung «Eine Entführung» besonders deutlich. Es geht um die beiden verfeindeten räuberischen Stämme der Wazirs und der Mahsuds in Waziristan: «Trotz ihrer Differenzen haben die zwei Stämme mehr gemeinsam als nur ihr Erbe von Armut und Elend. Die Natur hat in beiden einen ungewöhnlichen Vorrat an Zorn, eine gewaltige Zähigkeit und eine absolut fehlende Bereitschaft, sich mit ihrem Los abzufinden, herangezüchtet. Wenn die Natur sie lediglich mit Nahrung für zehn Tage im Jahr versorgt, glauben sie, ein Recht darauf zu haben, den Rest ihres Lebensunterhalts von ihren Mitmenschen einzufordern, die ein fettes, gemästetes und behagliches Dasein in der Ebene führen. Beiden Stämmen gilt die Fähigkeit zu überleben als höchste Tugend. In keiner von beiden Gemeinschaften haftet einem gedungenen Mörder, einem Dieb, einem Entführer oder einem Spitzel der geringste Makel an. Und schlieÃlich sind beide ganz und gar mit sich selbst befasst. Sie haben nicht den leisesten Zweifel daran, dass sie die Protagonisten sind, während der Rest der Welt entweder irgendwelche Nebenrollen spielt oder die Zuschauer abgibt â wie es sich eben für minderwertige Arten geziemt.»
Hier unterlagen die Wazirs und die Mahsuds einem fatalen Irrtum in der Selbsteinschätzung; das hat die Zeitgeschichte inzwischen klargestellt. Die politische Verteilung von Haupt- und Nebenrollen, von Protagonisten und Zuschauern in dieser Weltregion stellt sich anders dar, als Jamil Ahmads Nomadenstämme gerne glauben wollten. In Wahrheit sind sie nur noch Statisten, die längst von der Weltbühne abgeräumt worden sind. Doch selbst einstige Hauptdarsteller im pakistanischen Drama sind inzwischen ihrer Protagonistenrollen verlustig gegangen: Sie waren letztlich doch nur Episodisten, wenngleich sie zu ihrer Zeit für starke Auftritte sorgten, die sogar die Weltpolitik in Atem hielten. Man erinnere sich nur an den denkwürdigen Machtkampf zwischen Ali Bhutto und Zia ul-Haq. Diese beiden rivalisierenden Politiker, deren Ringen um die Herrschaft die 1970er und 1980er Jahre in Pakistan prägte, haben sowohl Salman Rushdie wie auch Mohammed Hanif zu Romanen inspiriert.
Jamil Ahmads Nomaden-Erzählungen werfen demnach ein Schlaglicht auf eine verlorene und verschwindende pakistanische Hinterwelt; Salman Rushdie und Mohammed Hanif hingegen leuchten in ihren Politik-Romanen die Vorderbühne aus â die Spielfläche für Kabalen und politische Rivalitäten unter den sprichwörtlich zersplitterten Eliten des Landes. Rushdie macht in «Scham und Schande» (1983) die Entstehung des «ungenügend imaginierten» Staatswesens Pakistan zu seinem Thema. Er erzählt diese Gründungsgeschichte als politische Phantasmagorie, in Form einer Familiensaga zweier verfeindeter Sippen, in denen unschwer die Clans von Ali Bhutto und Zia ul-Haq zu erkennen sind. Mohammed Hanif seinerseits wählt für seinen Debütroman «Eine Kiste explodierender Mangos» (2008) das Format des sarkastischen Polit-Thrillers, um die groteske Zwangsherrschaft des Putsch-Generals Zia und sein bizarres Ende möglichst grell herauszustellen.
Bereits in seinem fulminanten Roman «Mitternachtskinder», der 1981 seinen
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