Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Weltruhm begründete, hatte Salman Rushdie ein all-indisches Geschichtsspektakel entworfen. Er zog darin die literarische Summe der Epoche seit der indischen Unabhängigkeit von 1947, in einem phantastischen Gewebe aus historisch-politischen Realitäten und Träumen, Märchen und Mythen. Ihm gelang damit nichts Geringeresals dies: die Geschichte des indischen Subkontinents in seiner Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialmacht zur Allegorie zu verdichten.
In seinem darauf folgenden Roman «Scham und Schande» verquickt Rushdie abermals eine historische Epoche â im Wesentlichen die 1970er Jahre des Machtringens zwischen Ali Bhutto und Zia ul-Haq â mit einem Moment des Phantastischen und Utopischen. Er konzentriert das Romangeschehen auf die geschlossene Welt der führenden Familien Pakistans und verstrickt sie in einen tödlichen Machtkampf miteinander. Rushdie nennt die beiden verwandten und verfeindeten Sippen seines Romans die Hyders und die Harappas; in ihnen konkretisieren sich die Grundwidersprüche, die Pakistan von allem Anfang an zerreiÃen.
Rushdie lässt im Roman ein Land erstehen, das «nicht ganz» und doch erkennbar Pakistan ist: eine korrupte Theokratie, hin- und hergerissen zwischen Fundamentalismus und Verwestlichung, ein «Land der Reinen», besessen von einem unmenschlichen Begriff von Ehre und deren Gegenteil, einer fixen Idee von «Shame», wofür das Deutsche drei Begriffe aufbieten kann: Schmach, Schande und Scham. Diese doppelte Obsession von Ehre und Schmach, dem Land im Zuge der Islamisierung aufgezwungen durch Zeloten und Reinheitsfanatiker, erweist sich letztlich als selbstzerstörerisch. Denn mit seiner Despotie, seinem islamischen Reinheitsfimmel und seiner religiösen Heuchelei isoliert sich das Land auf unheilvolle Weise selbst und schottet sich ab von den reichen Traditionen kultureller Vielfalt des Subkontinents.
Aatish Taseers Credo «Mischformen bereichern die Welt» könnte auch als Motto über dem gesamten Åuvre Salman Rushdies stehen. Das Ideal der Kontamination, der kulturellen Verunreinigung, des fruchtbaren Mischmaschs, hat keinen beredteren Verfechter als Rushdie gefunden. Fast alle seine Romane feiern die ethnische Vielfalt, singen das Hohelied der wechselseitigen kulturellen Vermischung und Durchdringung und reden einem biegsamen und einigenden Synkretismus das Wort. Im Roman «Des Mauren letzter Seufzer» hat Rushdie sein Ideal hybrider Verschmelzungen so beschrieben: «Liebe als Melange, als Triumph des unreinen, bastardisierten, verbindenden Bestenin uns über das, was an Einsamkeit, Isolation, Strenge, Dogmatik, Reinheit in uns ist.» Immer wieder hat dieser Autor den «Absolutismus des Reinen» attackiert, am schärfsten und für ihn folgenreichsten in seinem Roman «Die Satanischen Verse». Dass Rushdie sein gewaltsam purifiziertes Roman-Pakistan in «Scham und Schande» nur als abschreckendes Gegenbeispiel zu seinem Ideal der multikulturellen Melange beschreiben kann, liegt auf der Hand.
Weil dieses Roman-Pakistan Mischformen nicht mehr dulden will, verdammt es sich selbst zur kulturellen Verarmung und Austrocknung. Ãberdauern kann das Land nur durch die permanente Repression einer geduckten und passiven Bevölkerung. Doch die Frauen leisten Widerstand gegen ihre patriarchalische Unterdrückung. Letztlich scheitert, wie Rushdie zeigt, die pakistanische Gesellschaft an diesem System der Frauendiskriminierung.
Im Mittelpunkt steht die Rivalität der Oberhäupter der Familien Hyder und Harappa, die um «das Erbe Pakistans» streiten und zwei Welten verkörpern. Hier Reza Hyder, der bigotte und engstirnige Militär mit dem Beinamen «Eisenfresser», dort sein Gegenspieler Iskander Harappa â Spitzname: «Alexander der GroÃe» â, ein brillanter Dandy, Frauenliebling und glänzender Staatsmann, der allerdings im Zuge des Aufstiegs zur Macht seine reformerischen Ideale verrät. Hier der grausame fundamentalistische Offizier auf seinem Islamisierungsfeldzug, dort sein Erzrivale, der Playboy und elitäre, verwestlichte Zivilist. Reza Hyder und Iskander Harappa sind, wie schon erwähnt, leicht als satirische Verzerrungen der beiden Protagonisten des politischen Niedergangs Pakistans in den 1970er und 1980er Jahren zu identifizieren: als Zia ul-Haq und Ali Bhutto, der theokratische Zelot und der profane Lebemann. Der eine wird den
Weitere Kostenlose Bücher