Die Orks 01 - Die Rückkehr der Orks
und er würde auch diesmal gut damit fahren.
Die Sache war nur – er konnte es nicht.
»Verdammt, Rammar, was ist nur los mit dir?«, schalt er sich selbst. »Früher hättest du einfach kehrtgemacht und wärst abgehauen, hättest die Gelegenheit genutzt, deinen asar zu retten. Du wirst allmählich alt und sentimental. Das wird dich noch das Leben kosten!«
Obwohl ihm sein klarer, untrüglicher Orkverstand dringend davon abriet, verließ er sein Versteck und rannte auf die Mauer zu, gebückt und die Kapuze über den Kopf gezogen wie zuvor Balbok. Die Wächter konnte er nicht mehr sehen, und er hoffte, dass auch sie ihn nicht entdeckten. Auf das Dämmerlicht, den Nebel und seinen Tarnumhang vertrauend, lief er keuchend weiter und langte schließlich bei der Mauer an.
Nun, da er daran emporblickte, kam sie ihm noch um vieles höher vor als aus der Ferne, und beinahe hätte er es sich noch einmal anders überlegt. Wie um sich selbst an der Flucht zu hindern, griff er nach dem Seil, das schon fast steif gefroren war vor Kälte, schlang es sich um seinen feisten Wanst und verknotete es mehrmals. Dann winkte er Balbok – der zweifelhafte Spaß begann …
Erneut waren Tage vergangen – Tage, in denen nichts geschehen war und gähnende Langeweile Alannahs ständiger Begleiter gewesen war. Sich nach Ablenkung sehnend, verbrachte die Hohepriesterin von Shakara den weitaus größten Teil des Tages damit, am Fenster ihres Gemachs zu stehen und hinauszublicken in die Weite der Weißen Wüste, über der um diese Jahreszeit die Sonne nicht versank.
Nur zweimal am Tag – wenn Farawyns Horn geblasen wurde, um zum Gebet zu rufen, und wenn das Tempelritual vollzogen wurde – verließ Alannah ihr Gemach. Was der Tempel an Zerstreuung zu bieten hatte – von den Gärten des Miron über die heißen Quellen bis hin zur großen Säulenhalle, in der sie in jungen Jahren zu lustwandeln pflegte – hatte sie zur Neige ausgeschöpft. Es vermochte ihr keine Kurzweil mehr zu verschaffen, und sie begann zu verstehen, weshalb so viele ihres Volkes des Lebens in dieser Welt überdrüssig waren und sich nach den Fernen Gestaden sehnten.
Auch Alannah spürte tief in sich den Drang, die Welt der Sterblichen zu verlassen, und mit jedem Tag, der zu Ende ging, ohne dass sie etwas aus dieser ewig andauernden Lethargie riss, nahm dieser Drang noch zu. Es war grauenvoll, jahrhundertelang darauf zu warten, dass sich eine Prophezeiung erfüllte – vor allem dann, wenn sich diese am Ende als Lüge erwies. Großes hatte Farawyn der Seher vorausgesagt, doch war es nicht eingetroffen. Und jedes Jahr, das Alannah vergebens gewartet hatte, hatte ihre Geduld zermürbt und ihren Unmut wachsen lassen. Und offenbar nicht nur ihren.
Vor zwei Tagen war die Gesandtschaft aus Tirgas Dun eingetroffen, auf die die Priesterin und ihre Diener so sehnsüchtig gewartet hatten. Aber Alannahs anfängliche Freude darüber, dass dem bleiernen Alltag in Shakara endlich eine Abwechslung widerfuhr, war bald grausamer Ernüchterung gewichen: Fürst Loreto war nicht unter den Gesandten gewesen. Dafür hatte man ihr einen Brief übergeben, von eben jenem Elfenfürsten, dem Alannah in inniger Liebe zugetan war.
Den Brief brauchte Alannah inzwischen nicht mehr zu lesen, um sich seinen Wortlaut ins Bewusstsein zu rufen. Wieder und wieder waren ihre Augen über die Zeilen gewandert, ohne dass sie den Inhalt hatte begreifen können, sodass sie den Brief inzwischen auswendig kannte.
Geliebte Alannah,
viel Zeit ist verstricken seit meinem letzten Besuch in Shakara – Zeit, die ich dazu genutzt habe, um in mich zu gehen und nachzudenken über Euch und mich und das Schicksal der Welt. Dabei hin ich zu einem Entschluss gelangt, den ich Euch mitteilen möchte, in gebotener Kürze, um Eure wertvolle Zeit nicht über gebühr zu beanspruchen. Nachdem der Hohe Rat mir wiederholt angetragen hat, Tirgas Dun zu verlassen und mit dem nächsten auslaufenden Schiff zu den Fernen Gestaden aufzubrechen, habe ich schließlich eingewilligt. Schon in Kürze werde ich diese Welt verlassen und in der Heimat unseres Volkes ein neues Leben beginnen, das mir weder Zwänge noch Verpflichtungen auferlegt. Ich weiß, dass diese Entscheidung Euch zweifellos treffen wird, aber ich bitte Euch, mich zu verstehen. Die Heimat unseres Volkes bietet mir alles, was ich je zu erhoffen wagte. Unsere Liebe hingegen muss unerfüllt bleiben, bis sich eines fernen Tages jene Prophezeiung erfüllt, der Euer
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