Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pfeiler der Macht

Die Pfeiler der Macht

Titel: Die Pfeiler der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
verbrachte er viele Abende allein in seiner Wohnung und dachte an sie, oder er streifte ziellos durch die Straßen und hoffte wider alle Wahrscheinlichkeit, ihr zufällig zu begegnen.
    Auf der Straße hatte er auch Nora kennengelernt. Er hatte bei Peter Robinson's in der Oxford Street - einem ehemaligen Tuchwarengeschäft, das jetzt die Bezeichnung »Warenhaus« führte - ein Mitbringsel für seine Schwester Dotty kaufen und danach mit dem nächsten Zug nach Folkestone fahren wollen. Aber dann fühlte er sich so elend, daß er nicht wußte, wie er seiner Familie unter die Augen treten sollte. Von Entschlußlosigkeit wie gelähmt, sah er sich außerstande, ein Geschenk auszuwählen. Es wurde schon langsam dunkel, als er mit leeren Händen das Geschäft verließ und unmittelbar davor mit Nora zusammenprallte. Sie stolperte, und er fing sie in seinen Armen auf. Es war ein einmaliges, unvergeßliches Gefühl. Trotz der dicken Kleidung war ihr Körper weich und nachgiebig, und ein warmer, wohlriechender Duft ging von ihr aus. Einen Augenblick lang war die kalte, düstere Londoner Straße verschwunden, und spontane Wonne umfing ihn wie eine geschlossene Welt. Dann zersprang die Tonvase, die Nora erstanden hatte, auf dem Pflaster in tausend Stücke. Der jungen Frau entfuhr ein Entsetzensschrei, und es sah aus, als wolle sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Hugh bestand natürlich darauf, ihr die Vase zu ersetzen. Sie war ein oder zwei Jahre jünger als er, vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, hatte ein hübsches rundes Gesicht, und unter ihrer Mütze lugten rotblonde Locken hervor. Ihre Kleidung war billig, aber adrett: ein rosafarbenes blumenbesticktes Wollkleid mit Turnüre, darüber eine eng sitzende, mit Kaninchenfell besetzte marineblaue Samtjacke. Sie sprach breites Cockney. Beim Kauf der Ersatzvase bemerkte er beiläufig, daß es ihm nicht gelungen sei, ein Geschenk für seine Schwester zu finden. Nora schlug einen bunten Schirm vor und bestand darauf, ihm bei der Auswahl zu helfen.
    Schließlich brachte er sie mit einer Droschke nach Hause. Sie lebte, wie sie ihm erzählte, bei ihrem Vater, einem Reisenden in Arzneimitteln. Ihre Mutter war tot. Die Wohnung lag nicht, wie Hugh zunächst angenommen hatte, in einem gutbürgerlichen Stadtviertel, sondern in einer ärmlichen Arbeitergegend. Hugh rechnete nicht damit, Nora je wiederzusehen. Den Sonntag in Folkestone brachte er, wie üblich, damit zu, über Maisie nachzugrübeln. Am Montag in der Bank erhielt er ein Billett von Nora, in dem sie sich für seine Freundlichkeit bedankte. Bevor er das Briefchen zusammenknüllte und in den Papierkorb warf, fiel ihm noch die saubere, zierliche, kleinmädchenhafte Handschrift auf. Am nächsten Tag verließ er gegen Mittag die Bank, weil er sich in einem nahe gelegenen Kaffeehaus eine Portion Lammkoteletts bestellen wollte. Da kam sie ihm auf der Straße entgegen. Hübsches Gesichtchen, dachte er im ersten Moment, ohne überhaupt zu erkennen, um wen es sich handelte. Doch dann lächelte sie ihn freundlich an. Hugh zog den Hut, Nora blieb stehen und fing an zu plaudern. Sie arbeite als Gehilfin einer Korsettmacherin, gestand sie ihm errötend, hätte soeben eine Kundin besucht und sei auf dem Weg zurück in die Werkstatt. Aus einer spontanen Eingebung heraus fragte er sie, ob sie vielleicht Lust hätte, am Abend mit ihm tanzen zu gehen.
    Lust hätte sie schon, erwiderte Nora, nur keinen passenden Hut. Er führte sie zu einer Putzmacherin und kaufte ihr einen, und damit war das Problem gelöst.
    Überhaupt spielte sich ihre Romanze weitgehend beim Einkaufen ab. Nora, die nie viel besessen hatte, genoß seinen Reichtum ungeniert, und was Hugh betraf, so machte es ihm Spaß, ihr Handschuhe, Schuhe, einen Mantel, Armbänder, und was sonst ihr Herz begehrte, zu kaufen. Seine Schwester verkündete einmal mit all der Lebensweisheit ihrer zwölf Jahre, Nora hätte ihn bloß um seines Geldes wegen gern, worauf Hugh lachend erwiderte: »Wer würde mich schon wegen meines Aussehens mögen?«
    Maisie ging ihm nicht aus dem Sinn - er dachte nach wie vor jeden Tag an sie -, aber die Erinnerung stürzte ihn nicht länger in abgrundtiefe Verzweiflung. Jetzt gab es immer etwas, worauf er sich freuen konnte: sein nächstes Rendezvous mit Nora. Innerhalb weniger Wochen schenkte sie ihm neue Lebensfreude. Auf ein e m ihrer gemeinsamen Einkaufsbummel begegneten sie bei einem Kürschner in der Bond Street Maisie. Verlegen machte Hugh die beiden

Weitere Kostenlose Bücher