Die Pfeiler der Macht
Taugenichts.«
Micky runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr. Mit ihren extremen Ansichten und ihrem ungestümen Auftreten könnte man sie sich eher an der Seite eines kämpferischen Journalisten oder eines radikalen Parlamentsabgeordneten vorstellen, dachte Augusta. Micky hätte eigentlich eine schönere und weniger exzentrische Frau verdient.
Weiter vorne in der Schlange entdeckte Augusta ein anderes jungverheiratetes Paar - Hugh und Nora. Hugh gehörte, dank seiner Freundschaft mit den Greenbournes, zum Marlborough Set und wurde zu Augustas höchstem Verdruß zu allem und jedem eingeladen. Er war als indischer Radscha verkleidet, während seine Frau anscheinend als Schlangenbeschwörerin gekommen war. Nora trug ein mit Ziermünzen besetztes kurzes Kleid, unter dem Haremshosen zum Vorschein kamen. Um ihre Arme und Beine wanden sich künstliche Schlangen, von denen eine ihren Pappmache- Kopf auf Noras üppigem Busen ruhen ließ. Augusta schauderte.
»Hughs Frau ist wirklich unerträglich vulgär«, murmelte sie Joseph zu.
Ihr Gatte war indes nachsichtig gestimmt. »Es ist doch ein Maskenball.«
»Keine andere Frau hier besitzt die Geschmacklosigkeit, ihre Beine zu zeigen.«
»Ich sehe keinen Unterschied zwischen weiten Hosen und einem Kleid.«
Wahrscheinlich ergötzt er sich am Anblick von Noras Beinen, dachte Augusta angewidert. Wie leicht es doch für solche Frauenzimmer ist, den Männern den Kopf zu verdrehen! »Ich halte sie schlichtweg für ungeeignet, einem Teilhaber des Bankhauses Pilaster eine gute Ehefrau zu sein.«
»Nora wird keine finanziellen Entscheidungen zu treffen haben.« Augusta hätte vor Zorn und Mißgunst aufschreien können. Daß
Nora aus der Arbeiterklasse stammte, reichte offenbar nicht. Um Joseph und die anderen Teilhaber gegen Hugh aufzubringen, mußte sie wahrscheinlich erst einen unverzeihlichen Fauxpas begehen.
Das war immerhin schon eine Idee.
Augustas Wut legte sich so schnell, wie sie aufgelodert war. Vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, Nora ins Fettnäpfchen treten zu lassen, dachte sie. Sie ließ ihren Blick die Treppe hinaufschweifen und beobachtete ihre Beute.
Nora und Hugh unterhielten sich mit dem ungarischen Attache Graf de Tokoly, einem Mann von zweifelhafter moralischer Reputation, der passenderweise als Heinrich VIII. auftrat. Nora verkörpert genau den Frauentyp, auf den der Graf fliegt, dachte Augusta zynisch. Obwohl anständige Frauen einen weiten Bogen um de Tokoly machten, um ja nicht in die Verlegenheit zu geraten, mit ihm reden zu müssen, wurde der Graf wegen seines hohen diplomatischen Ranges überallhin eingeladen. Nora machte dem alten Schwerenöter schöne Augen, doch in Hughs Miene konnte Augusta keine Spur von Mißbilligung erkennen. Im Gegenteil, er schien seine junge Frau zu vergöttern. Seine Verliebtheit macht ihn blind für ihre Schwächen, dachte Augusta, doch das wird sich ändern. »Nora unterhält sich mit de Tokoly«, raunte sie Joseph zu.
»Sie sollte besser auf ihren Ruf achten.«
»Daß du ja nicht unhöflich zu ihm bist!« erwiderte Joseph schroff.
»Wir hoffen, für seine Regierung eine Anleihe über zwei Millionen Pfund auflegen zu können.«
Augusta scherte sich nicht die Bohne um de Tokoly. Nora wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Am verwundbarsten ist das Mädchen jetzt und hier, dachte sie, wo alles neu für sie ist. Sie hatte doch noch gar nicht die Zeit, sich die Umgangsformen der Oberschicht anzueignen. Ob es gelingen könnte, sie noch heute nacht in eine Situation zu bringen, in der sie sich unsterblich blamiert - vorzugsweise vor den Augen des Kronprinzen ...? Just in diesem Augenblick erklang draußen vor dem Portal lauter Jubel: Die königlichen Gäste waren eingetroffen. Kurz darauf betraten der Kronprinz und Prinzessin Alexandra in der Maske von König Artus und Königin Guinevra das Haus, gefolgt von Höflingen und Hofdamen in Ritterrüstung und mittelalterlichen Gewändern. Die Kapelle, die gerade einen Strauß-Walzer spielte, brach mitten im Takt ab und stimmte die Nationalhymne an. Alle Gäste in der Halle verneigten sich und beugten die Knie. Die Schlange auf der Treppe wich zur Seite und senkte sich wie ein Wellental, als das königliche Gefolge die Stufen emporstieg. Der Kronprinz wird von Jahr zu Jahr dicker, dachte Augusta, während sie ihm mit einem Hofknicks die Ehre erwies. War da nicht schon ein graues Haar in seinem Bart? Sie war sich nicht ganz sicher. Auf jeden Fall litt er an
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