Die Philosophin
die Heilige Schrift als Gottes Offenbarung geleugnet. Er ging mit dem Zeigefingerzurück bis zum Anfang der Spalte, um die Quelle zu prüfen. Der fragliche Satz stand in einem Artikel mit dem Titel »Gewissheit«, gezeichnet von einem Autor namens de Prades.
Sartine hob die Brauen. De Prades? Den Namen kannte er doch!
Er verließ den Schreibtisch und trat an sein Regal. Wie es sich gehörte, war das Dossier unter dem Buchstaben P eingeordnet. Sartine zog die Akte hervor und schlug sie auf. Nein, sein Gedächtnis hatte ihn nicht getäuscht. Dieser de Prades hatte ein ganz übles Machwerk verfasst, eine Skandalschrift, die gespickt war mit den schlimmsten Verunglimpfungen des christlichen Glaubens, und dann auch noch die Stirn gehabt, die Arbeit als Dissertation an der theologischen Fakultät der Sorbonne einzureichen. Dumm und faul, wie Professoren waren, hatten sie keinerlei Grund zur Beanstandung gefunden und de Prades zum Doktor der Theologie promoviert. Sartine hatte den Fall gemeldet.
Noch am selben Tag machte er sich auf den Weg zur Place Royale. Vor dem Portal von Saint-Paul-Saint-Louis stieg er aus der Kutsche und klopfte an die Pforte eines unscheinbaren Hauses im Schatten der prachtvollen Jesuitenkirche.
»Erinnern Sie sich an einen Autor namens de Prades?«, fragte er Radominsky, nachdem der Pater ihm in seinem Arbeitszimmer einen Platz angeboten hatte.
»Natürlich –
Jerusalem coelesti.
Er hat in seiner Dissertation eine Unzahl von Dogmen verletzt. Ich habe bereits ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, damit sich die philosophische Fäulnis nicht weiter im Tempel der orthodoxen Lehre ausbreitet. Aber warum fragen Sie? Ist der Mann schon wieder aufgefallen?«
»Allerdings«, erwiderte Sartine. »Offenbar arbeitet er inzwischenfür die Enzyklopädie. Ich habe soeben einen Fahnenabzug gelesen, der …«
»De Prades?«, fragte Radominsky und beugte sich vor, mit beiden Händen die Lehnen seines Stuhls umklammernd, als müsse er sich daran festhalten, um nicht aufzuspringen. »Der Kerl ist ein Mitarbeiter der Enzyklopädie?«
»Ja, ehrwürdiger Vater, ein unerhörter Skandal.«
»Und ob das ein Skandal ist! Und eben darum ein unerhörter Glücksfall!«
»Wie bitte? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
Radominsky lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren«, sagte er leise, fast zu sich selbst. Um seine Lippen spielte ein feines, kaum merkliches Lächeln, während er die Fingerspitzen vor seinem Gesicht aneinander legte. »Ich glaube, jetzt haben wir sie. Das wird den Herren Philosophen das Genick brechen.« Er schloss die Augen und atmete einmal durch, wie um seine Worte tief im Innern zu genießen. Dann hob er den Blick und sagte: »Gut gemacht, Sartine – sehr gut sogar. Haben Sie zufällig die Unterlagen dabei?«
11
Der letzte Tag des Jahres 1751 dunkelte bereits, doch das Verlagshaus in der Rue de la Harpe war noch hell erleuchtet. Während im Erdgeschoss die Druckpressen auch an diesem Abend kreischten und stöhnten, als wollten sie das Lärmen und Schießen übertönen, mit denen draußen in den verschneitenStraßen vermummte Gestalten die Dämonen des alten Jahres vertrieben, stieß man im Redaktionsbüro unter dem Dach auf einen Erfolg an, der jede Geisterbeschwörung und Zukunftsdeutung, wie sie an diesem Tage Brauch waren, überflüssig zu machen schien.
»Messieurs, auf die Enzyklopädie!«
»Prosit!«, erwiderte d’Alembert den Trinkspruch des Verlegers. »Auf dass wir das Werk zu einem guten Ende bringen.«
»Über das letzte Jahr können wir uns nicht beklagen«, meinte Diderot.
»Allerdings«, bestätigte Le Bréton, und ein Strahlen verklärte sein Walrossgesicht. »Selbst heute sind wieder dreizehn Subskriptionen eingegangen. Und morgen erfolgt die Freigabe des zweiten Bandes. Ich habe sichere Nachricht, dass Malesherbes bereits seine Unterschrift …«
Er unterbrach seine Rede, denn im Treppenhaus wurden Schritte laut. Im nächsten Moment flog die Tür auf, und herein eilte Grimm, der deutsche Journalist, hochrot im Gesicht und völlig außer Atem.
»Jerusalem ist gefallen!«, keuchte er und warf sich auf einen Stuhl.
»Haben Sie den Verstand verloren?«, fragte Le Bréton. »Wir sind in Paris, nicht im Morgenland.«
»Die Sorbonne hat de Prades die Doktorwürde aberkannt und ihn aus der theologischen Fakultät entfernt.
Horruit sacra facultas.«
»Was?«, rief d’Alembert. »Das ist nicht möglich! Er wurde
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