Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
drückte seine Hand. Erstaunlich fest.
»Wir haben ja keine Eile. Nimm dir die Zeit. Ich muss nur wissen, ob du vorhast, länger mit mir zusammen zu sein.«
»Natürlich. Ich möchte ganz lange mit dir zusammen sein.«
»Wirklich?«
»Ganz ehrlich«, sagte Tsukuru entschieden.
»Gut. Wir haben Zeit, und ich warte. Im Moment habe ich selbst noch einiges zu regeln.«
»Was denn?«
Sara lächelte rätselhaft, ohne seine Frage zu beantworten.
»Du solltest möglichst bald nach Finnland fliegen und mit Kuro sprechen. Ganz offen. Sie hat dir bestimmt etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ich habe da so eine Ahnung.«
Den ganzen Weg vom Bahnhof zurück zu seiner Wohnung war Tsukuru in vage, nicht greifbare Grübeleien verstrickt. Ihm war, als hätte der Fluss der Zeit sich irgendwo verzweigt. Er dachte an Shiro, er dachte an Haida, er dachte an Sara. Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerungen und Empfindungen flossen parallel nebeneinander her.
Vielleicht habe ich etwas Verzerrtes, Abartiges in mir, dachte Tsukuru. Wie Shiro gesagt hat: Jenseits meiner Fassade lauert womöglich eine andere, verborgene Seite, die im Dunkeln liegt wie die Rückseite des Mondes. Vielleicht habe ich Shiro, ohne es zu wissen, an irgendeinem anderen Ort zu einer anderen Zeit wirklich vergewaltigt und ihre Seele zerstört. Brutal, mit roher Gewalt. Und eines Tages wird diese finstere Rückseite die Oberhand gewinnen und mich völlig verschlingen.
Er überquerte bei Rot die Straße und wurde von einem Taxifahrer, der abrupt hatte bremsen müssen, mit einer Flut von Beschimpfungen überschüttet.
Als er wieder zu Hause war, zog er seinen Schlafanzug an und ging zu Bett. Es war fast zwölf. In dem Moment merkte Tsukuru, dass seine Erektion zurückgekehrt war, als wäre es ihr plötzlich eingefallen. Es war eine vollkommene Erektion, sein Penis war hart wie Stein. Er hätte nie geglaubt, dass er so hart werden könnte. Es war die reine Ironie. In der Dunkelheit stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus. Er stand auf, schaltete das Licht an, nahm eine Flasche Cutty Sark aus dem Regal, schenkte sich ein kleines Glas ein und schlug ein Buch auf. Als es nach eins war, fing es an zu regnen. Immer wieder peitschten stürmische Böen große Tropfen gegen die Fensterscheibe.
Hier in diesem Zimmer, in diesem Bett habe ich Shiro vergewaltigt, dachte Tsukuru plötzlich. Ich habe etwas in ihren Wein gemischt, sie betäubt, ihr die Kleider ausgezogen und ihr Gewalt angetan. Sie war noch Jungfrau. Es hat ihr sehr wehgetan, und sie hat geblutet. Und von da an hat sich alles verändert. Damals vor sechzehn Jahren.
Während er dem Trommeln des Regens lauschend seinen Gedanken nachhing, spürte er, wie das ganze Zimmer sich in einen anderen Raum verwandelte. Als hätte das Zimmer einen eigenen Willen. Er konnte allmählich nicht mehr beurteilen, was Realität war und was nicht. In einer Realität hatte er Shiro nicht angerührt. Aber in einer anderen hatte er sie feige missbraucht. Je mehr Tsukuru darüber nachdachte, in welcher der beiden Realitäten er sich befand, desto weniger wusste er es.
Es war halb drei, als er endlich einschlief.
13
Am Wochenende fuhr Tsukuru mit dem Fahrrad ins nahe gelegene Schwimmbad. Er kraulte tausendfünfhundert Meter in zweiunddreißig oder dreiunddreißig Minuten in einem festen Rhythmus. Schnellere Schwimmer ließ er seitlich vorbei. Tsukuru war kein Mensch, der gern mit anderen wetteiferte. Wie immer fand er auch an diesem Tag einen Schwimmer, der in einem ähnlichen Tempo schwamm wie er, und gesellte sich zu ihm in die Bahn. Der schlanke junge Mann trug eine schwarze Badehose, eine schwarze Bademütze und eine Schwimmbrille.
Schwimmen linderte die Erschöpfung, die sich in ihm angestaut hatte, und lockerte seine verspannten Muskeln. Im Wasser fühlte er sich wohler als irgendwo sonst. Zweimal in der Woche eine halbe Stunde zu schwimmen half ihm, sein seelisches und körperliches Gleichgewicht zu halten. Außerdem eignete sich das Wasser auch, um nachzudenken. Schwimmen hatte eine meditative Wirkung auf ihn. Hatte er einmal seinen Rhythmus gefunden, konnte er seinen Gedanken einfach freien Lauf lassen, wie Hunden, die man auf freiem Feld loslässt.
»Schwimmen ist das schönste Gefühl. Außer Fliegen«, hatte er Sara einmal erklärt.
»Bist du schon einmal geflogen?«, fragte sie.
»Nein, noch nie«, sagte Tsukuru.
An diesem Morgen dachte er beim Schwimmen hauptsächlich an Sara. Er sah ihr Gesicht und ihren Körper
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