Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Prinzen Von Irland

Die Prinzen Von Irland

Titel: Die Prinzen Von Irland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Und nicht weniger sonderbar war, dass diese kuriose Zeichnung, nachdem er
an jenem Abend die Bibliothek verlassen hatte, sogar noch weit intensiver als
die prachtvollen Evangelien seine Fantasie verfolgte. Es war so, als enthielten
die wandernden Linien dieser Spiralen für Menschen, die auf Reise gingen, eine
geheime Botschaft über ihr Schicksal.
    * * *
    Im
ersten Morgenlicht brachen sie auf. Der Schnee war bereits am Tag zuvor
geschmolzen, und der Boden war feucht und morastig. Sie fuhren in einem kleinen
zweirädrigen Wagen, den Morann aufgetrieben hatte. Wenn sie an einem
Bauerngehöft vorüberkamen, erkundigten sie sich jedes Mal nach Neuigkeiten über
das Heer von Munster, aber niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Zumindest
in diesem Teil des Landes schien noch alles ruhig zu sein. Am frühen Nachmittag
erreichten sie den Boyne an einer Stelle, wo sich eine Furt befand. Nachdem sie
den Fluss durchquert hatten, setzten sie ihren Weg unter einem bleigrauen
Himmel in südlicher Richtung fort.
    Der Tag verlief
ungestört. Wachsam hielten sie Ausschau nach kriegerischen Banden, bekamen aber
keine zu Gesicht. Als der Abend dämmerte, sahen sie über einem Gehöft bei einem
alten Rath Rauch aufsteigen und trafen einen Schäfer und seine Familie an.
Hocherfreut über die Wärme eines Feuers und ein Dach überm Kopf, verbrachten
sie dort die Nacht. Der Schäfer erzählte ihnen, dass Brian Boru mit einer
riesigen Streitmacht bis Dyflin vorgerückt sei und dort sein Lager
aufgeschlagen habe. »Es heißt, er habe vor, bis über Weihnachten zu bleiben«,
berichtete der Schäfer.
    Als sie am nächsten
Morgen wieder losfuhren, war der Himmel bedeckt. Vor ihnen dehnte sich weites, flaches
Land. Zu ihrer Rechten im Westen begann ein riesiges Moorgebiet. Zwei
Tagesreisen entfernt im Osten lag Dyflin. Die Ebene vor ihnen im Süden war
bewaldet und stellenweise unterbrochen von weiten offenen Flächen. Wenn sie
zügig vorwärts kamen, würden sie am späten Nachmittag die ausgedehnteste dieser
offenen Weiten, die kahle Hochebene von Carmun erreichen, wo sich das Volk der
Insel seit unvordenklichen Zeiten zu dem berühmten heidnischen Lughnasa–Fest
und den Pferderennen versammelte hatte. Und von den alten Rennbahnen war es
nicht mehr weit bis zu ihrem Zielort, dem berühmten Kloster Kildare.
    Die Dämmerung nahte,
als sie die Ausläufer von Carmun erreichten. Der Himmel war von einem
sonderbaren Grau durchdrungen. Die endlos flachen und öden Weiten hatten etwas
Unheimliches und leicht Bedrohliches. Selbst Morann schien sich nicht ganz wohl
in seiner Haut zu fühlen, und Osgar bemerkte, wie er sich besorgt umblickte.
Bevor sie Kildare erreichten, würde es dunkel sein. Er warf einen heimlichen
Blick auf Schwester Martha.
    Die immer freundliche
Nonne war eine wunderbare Reisegefährtin gewesen. Sie redete nie ungefragt, und
was sie sagte, zeugte von Frohsinn und gesundem Menschenverstand. Bei der
Pflege von Kranken, dachte Osgar, musste sie ein wahrer Segen sein. Er hatte
den Eindruck, dass sie ihre Furcht sehr gut verbarg. Sie warf ihm ein Lächeln
zu und fragte: »Hast du nicht Lust, mit mir etwas zu singen, Bruder Osgar?«
    Das könnte ihnen
wirklich helfen, die Nerven zu bewahren.
    »Und was?«, fragte
er. »Einen Psalm vielleicht?«
    »Lieber ›Sankt
Patricks Rüstung‹«, entgegnete sie.
    Osgar übernahm die
erste Strophe und sang mit fester Stimme:
     
    Ich
rüst mich heut,
mein allmächtiger Geist;
ich beschwör die Drei,
die heilige Dreieinigkeit;
ich bekenn mich zu dem Einen,
dem Schöpfer der Schöpfung .
     
    Dann übernahm
Schwester Martha die zweite Strophe:
    Ich rüst mich heut,
    durch Christi Geburt…
     
    Ihre Stimme war voll
freudiger Kraft, und Martha war musikalisch. Wie von selbst verfielen die
beiden in einen Wechselgesang und teilten sich die Zeilen.
    *
* *
    Nachdem
sie sich am nächsten Morgen von der Nonne verabschiedet hatten, bereiteten sich
auch die beiden Männer darauf vor, getrennte Wege zu gehen. Es war ein
frischer, aber sonniger Tag. Der Weg von Kildare nach Glendalough war nicht
beschwerlich, und da sie bisher keinerlei Gefahr ausgesetzt gewesen waren,
hatte Osgar nichts dagegen, nun allein weiterzuziehen. Zuerst würde er bei
einem kleinen Kloster Halt machen, das kaum ein Dutzend Meilen entfernt
versteckt am Fuß der westlichen Ausläufer der Wicklow–Berge lag. Zu seinem
Glück hatten sich die Mönche dort vor kurzem von einem Bediensteten der Abtei
ein Pferd ausgeliehen, und man war

Weitere Kostenlose Bücher