Die Prophezeiung der Steine
sie aussah wie ein Junge. Sie steckte sich das Haar hoch und setzte sich eine eng anliegende Lederkapuze auf, die sie normalerweise zum Schutz gegen den winterlichen Schnee trug. Dann holte sie das sorgsam gepackte Bündel
aus dem hinteren Bereich der Höhle hervor und band es sich auf den Rücken. Schließlich führte sie den Rotschimmel an den Felsblock, von dem aus sie aufsaß, und kletterte auf seinen Rücken.
»Dann komm«, sagte sie. »Vorwärts.«
Sie stellte fest, dass ihre Gedanken in diesen vergangenen drei Tagen ein Eigenleben entwickelt hatten. Sie hatte bereits einen fertigen Plan im Kopf, obwohl sie diesen nicht bewusst ausgearbeitet hatte. Sie würde sich sofort nach Carlion aufmachen, aber durch den Wald, nicht über die Straße, auf der die Männer des Kriegsherrn sie bestimmt entdecken würden. Auf diese Weise würde es länger dauern, weil sie den Fluss würde entlangreiten müssen, über den Wasserfall hinaus, über den Abgrund hinaus, um eine Furt zu finden, wo sie den Fluss überqueren konnte, um dann auf der anderen Seite über einen sich ständig hinabwindenden Weg durch den Wald hinunter auf die Straße zu gelangen. Es würde länger dauern, aber sicherer sein. Die Männer des Kriegsherrn würden ihre Suche von der Linde aus beginnen, sodass ihr Zeit blieb.
Zwar kannte sie den Wald besser als jeder andere, aber der Rotschimmel konnte sich nicht so durch das Unterholz bewegen, wie es ihr möglich war, sodass sie sich wie am Vortag an den Pfad hielt. Der Rotschimmel erkannte den Weg wieder und schritt ruhig voran. Es war ein warmer Tag, und dort, wo die Bäume nicht so dicht zusammenstanden, sickerte Sonnenlicht zu ihnen herab. Sie bewegten sich aus dem Schatten in die Sonne und wieder in den Schatten, Kühle und Wärme im Wechsel. Dazu kam der Rhythmus der leisen Hufschläge des Rotschimmels. Bramble ließ sich davon einlullen, sodass sie schließlich von Männerstimmen und dem Klimpern von Pferdegeschirr überrascht wurde, das in der Ferne zu vernehmen war.
Also hatten sie ihre Suche von Thornhill aus begonnen, nicht von der Linde aus. Und sie kamen in gleichmäßigem Tempo von Westen auf sie zu. Bramble änderte ihren Kurs und hielt nun direkt auf den Abgrund zu. In der Nähe des Wasserfalls waren Felsen, mit Höhlen darin … vielleicht konnte sie sich mitsamt Rotschimmel darin verbergen. Diese Männer kannten den Wald nicht so gut wie sie. Bramble war zuversichtlich, sie auf dem ihr vertrauten Gelände überlisten zu können. Dann hörte sie das Gebell der Hunde.
Auch der Rotschimmel hob den Kopf und holte Luft, um zu wiehern. Bramble beugte sich rasch vor und hielt ihm die Nüstern zu. Vorwurfsvoll schaute er sie an, und sie selbst erwiderte den Blick seiner großen Augen.
»Keinen Laut, mein Freund«, flüsterte sie.
Langsam stieß das Pferd den Atem aus, woraufhin sie es zu einem zügigen Schritt drängte.
Das Gebell der Hunde veränderte sich. Bramble hatte zu oft den Verlauf einer Jagd beobachtet, als dass sie es nicht wiedererkennen würde: Sie haben die Witterung aufgenommen! Als der Rotschimmel Männerstimmen hörte, die die Hunde antrieben, beschleunigte er sein Tempo. Eine dieser Stimmen drängte ihn zu besonderer Eile. Eine tiefe, harte Stimme. Becks Stimme , dachte Bramble. Der Ältere. Der Schlaue . Fast wäre der Rotschimmel ins Straucheln geraten, dann verschärfte er erneut das Tempo, nahm den unebenen Boden mit weit ausholenden Schritten und ignorierte Bramble dabei vollkommen. Sie beugte sich tief hinab und klammerte sich mit beiden Händen an seinen Hals, während sie rasch durch das Unterholz ritten.
Hinter ihnen läuteten die Hundeglocken wie wild. Verzweifelt überlegte Bramble, was sie tun sollte. Ihr blieb nun keine Zeit mehr, um sich zu verstecken. Auf keinen Fall würde sie rechtzeitig die Furt hinter dem Abgrund erreichen,
um den Fluss zu überqueren und ihre Fährte zu verwischen. Sie versuchte, sich an andere Wasserläufe in der Nähe zu erinnern, doch es gab keine. Vielleicht konnte sie auf einen Baum klettern und den Rotschimmel laufen lassen - die Hunde würden der Witterung des Pferdes folgen. So zu handeln wäre vernünftig gewesen, dennoch konnte sie es nicht. Sie konnte ihn nicht einfach den Jagdhunden überlassen. Was, wenn die Hundeführer sie nicht rechtzeitig zurückpfiffen? Wenn sie von Blutgier überwältigt wurden? Ihn zur Strecke brachten? Diese Hunde wurden dazu eingesetzt, Menschen, Pferde und Wild zu jagen; sie würden ihm an die
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