Die Quelle
Lüge weiterspinnen und
hätte er einen Gott gehabt, hätte er nun darum gebeten, dass
Anthalion ihm glauben möge. Dessen Wut wollte er nicht noch einmal
erleben.
„Sie erscheint mir, spricht mit mir und manchmal leiht
sie mir etwas von ihrer Macht… Sie ist nur ein Geist, sie kann nicht lange
unter uns weilen. Sie möchte nur herausfinden, ob du tatsächlich
vorhast, das Tor zur Quelle zu zerstören.“
Es war offensichtlich, dass Anthalion ihm nicht glaubte,
doch statt wütend zu werden, wirkte er plötzlich spöttisch.
„So? Das Kind erscheint also als Göttin und hat
einen Körper… Das Kind ist eine ‚Sie’ und sie erscheint dir, obwohl
offensichtlich nur ich die Antwort zu bieten habe, die sie gerne hätte.
Nebenbei heilt sie Menschen aus meinem Volk… Weshalb sollte sie das tun? Aus Güte?
Aus Mitleid? Das sind Begriffe, die ein Kind ebenso wenig kennt wie ein Gott. Solltest
Du mich noch einmal mit einer Lüge beleidigen wollen, Bote, dann gib dir
zumindest die Mühe, eine plausible Geschichte zu erfinden.“
Der Herrscher hatte versucht seine Stimme bissig klingen
zu lassen, doch es war ihm kaum gelungen. Er hatte eher traurig gewirkt...
verletzt, hätte Leathan vermutet, wenn er Anthalion auch nur einen
Augenblick lang zugetraut hätte, verletzlich zu sein. Plötzlich
ertönte ein lautes Gebrüll, das sie beide unwillkürlich
zusammenzucken ließ und ihre Blicke zu dessen Ursprung auf das Meer
lockte.
Leathan verspürte augenblicklich Übelkeit, als
er die Ungeheuer erblickte, die ihren abendlichen, grausamen Kampf
vollführten, während die Fischer hektisch ihrer gefährlichen
Arbeit nachgingen. So entsetzlich war das Spektakel, dass Leathan wegsehen
musste. Lieber konzentrierte er sich auf das Antlitz Anthalions, das in den
widerwärtigen Geschehnissen aufzugehen schien. Welchem Wahn der Herrscher
nun verfallen war, konnte er nicht nachvollziehen. Er schwieg, während
Anthalion fast andächtig auf das vor Blut schäumende Meer herabsah.
Obwohl Leathan diesen albtraumhaften Anblick verabscheute, hoffte er das
Spektakel würde Anthalion ausreichend Ablenkung von ihrem Gespräch
verschaffen, denn seine Fähigkeit Lügen zu erfinden, war gerade
erschöpft. Erst nach minutenlangem Schweigen wandte sich Anthalion ihm
erneut zu. Seine Stimme spiegelte nun Einsamkeit und Sehnsucht wider, als hätten
das vorangegangene Gespräch und der geistige Kampf nie statt gefunden.
„In der Welt, in der du vorher warst, gab es keine
Ungeheuer in den Meeren, nicht wahr?“
Leathan versuchte sich den Gedankensprüngen
Anthalions anzupassen. Seine Furcht schluckte er herunter und es gelang ihm, in
einem gelassenen Tonfall zu antworten.
„Nein, in meiner Welt gehen sogar Kinder am Stand
spazieren und baden im Meer. Fischer können mit Booten auf die See hinaus
fahren, um Fische zu fangen.“
Leathan sah kurz in Richtung des Hafens, in dem nicht ein
einziges Boot zu sehen war. Hier bemühten sich die Fischer von Land aus,
die Netze einzuholen. Er beobachtete sie ein Weile... Die Fische, die den
Mäulern der Ungeheuer entkommen waren, würden nun einem Teil von
Anthalias Bevölkerung als Nahrung dienen. Der Kampf war vorbei, die
Ungeheuer verschwanden, wie sie gekommen waren und hinterließen einen
schalen Blutgeruch in der Luft. Leathan schauderte und der Gott-König
lächelte ihn fast bemitleidend an.
„Anfangs mag es einem widerlich vorkommen, doch siehst du
lang genug hin, verblasst das Grauen. Am Ende entdeckst du, wie schön und
vollkommen das Schauspiel ist.“
Anthalion wirkte ruhig, fast traurig. Leathan wagte es,
eine Frage zu stellen, um die bedrückende Stille zu brechen, die den
Worten Anthalions folgte.
„Kommen die Ungeheuer jeden Abend an die
Oberfläche?“
Der Herrscher lachte leise. „Du solltest unsere Welt
besser kennen lernen, ehe du es riskierst, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen…“
Seine Stimme klang fast sanft, doch seine Augen
verrieten, dass er Leathans Reaktion auf seine Worte genauestens beobachtete. Von
welchem Risiko sprach er? Von dem, der jeder Sterbliche eingeht, sobald er eine
Entscheidung trifft, oder von dem Risiko, das ein Kind der Quelle eingehen
würde, wenn es sich zwischen den Göttern und der Mensche stellen
sollte?
„...Geh jetzt, Bote... wir sehen uns nach dem Turnier,
ganz gleichgültig, ob du dann noch am Leben bist oder nicht.“
*
Anthalion hatte sich wieder abgewandt, so blieb es
Leathan erspart Worte des Abschieds zu finden. Erleichtert
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