Die Quelle
Mit
geschlossenen Augen hielt er inne, sandte seinen Geist hinaus und verschmolz
langsam mit den Wogen. Er spürte Lebewesen in dem Wasser. Ruhige,
träge, kleine Fische, Krabben… Keine Seeungeheuer in Sicht. Er war sich
dessen sicher. So wie er im Wald sicher gewesen war, wo die Tiere sich
versteckten, so war er sich hier sicher, dass sich keine blutrünstigen
Monster versteckten. Doch dann vernahm er etwas. Da war es.
Wachsamkeit. Intelligente Wachsamkeit. Das war kein
Ungeheuer, von Blutrausch getrieben, sondern ein ruhiger, intelligenter Geist.
Seltsamerweise konnte er keine genauen Gedanken erforschen, aus irgendeinem
Grund entglitten sie ihm immer wieder. Er konnte nur eindeutig eine
intelligente Lebensform wahrnehmen. Als er die Augen wieder öffnete und
Sihldan ansah, lächelte er zufrieden: Er hatte gefunden, wonach er gesucht
hatte.
Sihldan war still an seiner Seite geblieben. Er kannte
diesen leeren Gesichtsausdruck Leathans schon von der Jagd und er wusste, es
war ein Augenblick, in dem er nicht ansprechbar war. Als Sihldan wieder Leben
in den Augen seines Freundes sah, wartete er auf eine Erklärung, die ihm
Leathan auch zum Teil gewährte.
„Die Küste ist ganz nah. Keine Seeungeheuer zu
spüren.“
Leathan hatte sicherlich die umgebende Natur genauestens
erforscht, dennoch fühlte sich Sihldan dem Tode nahe, denn sogar er konnte
am Rauschen des Meeres hören, dass wohl nur noch eine einzige Düne
sie vom Strand trennte. Wie weit konnten die Ungeheuer eigentlich ins
Landesinnere gehen? Das hatte er nie versucht herauszufinden, doch er
fürchtete, er würde es bald erfahren. Als Leathan weiter sprach,
bestätigte er seine Vermutung.
„Ich werde über die Düne gehen. Du bleibst hier
und beobachtest. Ich möchte, dass du auf keinen Fall etwas unternimmst.
Bleib auf der Düne, da hast du genug Abstand zum Meer.“
Am liebsten wäre er davon gerannt, stattdessen wagte
Sihldan noch einen Versuch, Leathan von seinem Vorhaben abzuhalten. Er tat es
nicht aus Pflicht, sondern er fürchtete, einen Freund zu verlieren.
„Das ist Irrsinn! Weshalb tust du das? Was ist an
Seeungeheuern so interessant, dass du dafür dein Leben aufs Spiel setzt?“
Leathan hatte bereits seine Aufmerksamkeit auf das Meer
gerichtet, seine ganze Antwort bestand darin, dass er Sihldan voller Zuversicht
eine Hand auf die Schulter drückte, ehe er vorsichtig den Hang der
Düne herauf ging.
Kopfschüttelnd folgte Sihldan ihm bis zum
höchsten Punkt der Düne. Dort blieb er stehen, während er
machtlos beobachtete, wie Leathan dem Strand und seinem sicheren Tod
entgegenlief. Vielleicht hätte er ihn niederschlagen sollen, um ihn davon
abzuhalten, doch es wäre ihm wohl kaum gelungen. Hier musste sich Leathan
an keine Regel halten, und der Hexermagie war Sihldan nicht gewachsen. Obwohl
Sihldan wütend auf Leathan war, obwohl er ihn wegen seiner Unvernunft
gerne angebrüllt hätte, musste er sich eingestehen, dass er noch nie
so viel Achtung für einen anderen Menschen empfunden hatte... Mutig war
er, sein verrückter Hexer-Freund!
Leathan hatte sich seiner Umgebung wieder geöffnet.
Er war der Wind, das Schilf, der Sand, die Wellen und das Wasser… Er verschmolz
mit den Wogen und als er einen Fuß auf den Abhang der Düne setzte,
spürte er wieder die Wachsamkeit im Meer... Da war er, dieser fremde
Geist, so schwer zu erfassen und doch wachsam, offensichtlich weil Leathan sich
so nah an seinem Gebiet heran wagte. Vorsichtig ging Leathan weiter in Richtung
des dunklen Wassers. Der belebende Salzgeruch verstärkte sich und das
Rauschen der Wellen begleitete Leathans Schritte. Der Geist den er entdeckt
hatte, wurde unruhig… Wie aus dem Nichts erschien plötzlich ein zweiter
Gedanke, wild, roh, zornig… Es wurde laut, als das Wasser aufschäumte, um
einen gewaltigen Körper preis zu geben: Ein Seeungeheuer war erschienen!
Es hatte ein kreisrundes Maul und trat röchelnd aus dem Wasser, dabei
offenbarte es einen riesigen Schlund und unzählige Reihen von Zähnen.
Blutdurst war das einzige, was in den Gedanken des Monsters zu lesen war. Es
spürte und dachte nichts anderes. Leathan lief weiter, statt zu fliehen.
Er trat dem Monster entgegen und lächelte dabei sogar. ‚Das Schauspiel
kann beginnen!’, dachte er und verwendete gedanklich Anthalions Wortwahl.
Für Sihldan wirkte es, als ob sein Freund den
Verstand verloren hatte. Niemand konnte ihn mehr retten, die Seeungeheuer waren
nicht nur schnell, sondern
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