Die Räder des Lebens
sich vor und fuhr mit dem Finger die Konturen seines Kinns nach. »Mit Menschen funktioniert das nie so. Alles, was neu ist, ist langsamer als die Morgendämmerung, langsamer selbst als die Mondzyklen. Dein Name ist deine Antwort; sie muss es sein. Andernfalls bist du nur Messing und wirst auf ewig nur Messing sein. Ich bevorzuge Boas.«
Er starrte sie schweigend an, während seine Augen leise klickten.
»Mädchen«, kam al-Wazirs dröhnende Stimme von der Zelttür. »Ich muss mit dir reden, auf der Stelle. Ich und der nette Hauptmann Hornsby warten auf dich.«
»Boas«, sagte sie leise. »Ich komme wieder.«
Als sie sich von ihm abwendete, musste Paolina darauf achten, nicht gut gelaunt in die Freiheit zu hüpfen.
Al-Wazir scheuchte sie in ein anderes Zelt. In diesem standen Kisten, dass es bis oben hin voll war. Obwohl die Segeltuchwände hell im Sonnenlicht strahlten, war es im Zelt in der Mittagshitze nasskalt. Hornsby war auch anwesend. Paolina fiel auf, dass er diesmal keine Pistole am Gürtel trug. Der Marineoffizier stand neben einem kleinen, dunkelhäutigen Mann, der zur Glatze neigte, eine Hakennase und müde wirkende Augen hatte. Der Fremde trug eine blaue Uniform, die zu nichts passte, was sie bisher im Lager gesehen hatte. Sie war mit goldenen Litzen übersät.
Er kam natürlich vom Luftschiff.
Sie lächelte.
Der dunkelhäutige Mann erwiderte ihr Lächeln nicht. Er musterte sie einmal, musterte sie zweimal, als ob er darüber nachdachte, sie zu kaufen. »Nein.«
»Ich –«, fing Paolina an, aber al-Wazir packte sie fest am Arm und zerrte kurz an ihr.
»Ich glaube nicht, dass dieses Thema zur Debatte steht«, sagte Hornsby zu dem Mann.
»Natürlich nicht.« Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich bin der Kapitän meines Schiffs, und mein Wort ist Gesetz. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, hier, weit außerhalb der Grenzen unseres Empires. Das steht nicht zur Debatte.«
Hornsby wechselte Blicke mit al-Wazir. Dann: »Sie missverstehen mich.«
»Diese Angelegenheit wird auf höchster Ebene Konsequenzen haben«, polterte al-Wazir.
Sie merkte, dass er mit sehr tiefer Stimme sprach, tiefer noch als sonst. Wut? Einschüchterung? Der riesige Engländer hatte eindeutig eine überwältigende Ausstrahlung.
Der Bootsmann sprach weiter. »Wenn Sie darauf bestehen, kann ich Ihnen die notwendigen Vollmachten beibringen.«
Der Luftschiffkapitän hob die Hand. »Nein, nein. Wir müssen uns dessen nicht bedienen.« Er rieb sich die Augen und konzentrierte sich erneut auf Paolina. Diesmal sah er sie als Person an, nicht einfach als Objekt, das es zu bewerten galt. »Sie sind eine Frau, junge Lady.«
»Sir«, sagte sie ruhig, denn ihr war sehr wohl bewusst, dass ihre Zukunft in diesem Augenblick in den Händen dieses Manns lag.
»Frauen gehören nicht auf ein Luftschiff Ihrer Kaiserlichen Majestät. Nicht aus Aberglauben, sondern aus praktischen Gründen. Siebenundachtzig Offiziere und Männer vertragen sich nicht gut mit einer Frau.«
»Möchten Sie damit andeuten, dass die englische Navy nicht aus Gentlemen besteht?« Sie bedauerte die Worte in dem Moment, als sie sie ausgesprochen hatte, aber al-Wazir prustete nur und Hornsby schüttelte laut lachend den Kopf.
Selbst der Kapitän musste lächeln. »Der Punkt geht an Sie, Mademoiselle. Aber nein, leider ist dem nicht so. Die Offiziere sind es selbstverständlich; das steht ja auch in unserem Patent. Die Männer sind Matrosen.«
»Ich habe fast dreitausend Kilometer hinter mich gebracht, um hierher zu gelangen«, sagte sie zu ihm. »Aus einem Dorf voller Männer, durch Länder voller Männer und durch einen Krieg hindurch, den Männer führen. Ein Schiff voller Männer jagt mir keine Angst ein.«
»Dann verstehen Sie die Männer nicht.«
Al-Wazir drückte erneut ihren Arm, diesmal aber sanfter. »Sie braucht England, Kapitän, und England braucht sie. Sie können sie schneller dorthin bringen, als alles, was wir sonst ermöglichen können.«
Der Kapitän nickte und sah Paolina erneut in die Augen. »Und warum braucht England Sie?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gab sie zu. »Aber ich weiß, dass England der Ort ist, an dem ich alles über die Welt lernen kann. Ich habe bereits alles logisch abgeleitet, was mir zur Schöpfung möglich war. Ich muss zu den Zauberern gehen, die mit Newton und Faraday und Priestley studiert haben und die mir das zeigen können, was ich bisher noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Ich muss dorthin,
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