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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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behauptete er, und seine Finger übten tatsächlich eine wohltuende Wirkung auf ihre verkrampften Muskeln aus, riefen aber zugleich Empfindungen hervor, von denen sie nichts wissen wollte, so daß sie heilfroh war, als der Direktor des Kulturzentrums auftauchte.
    »Beeilt euch, Kinder! Bald ist es soweit! Das Publikum kann es kaum noch erwarten.«
    Er trat dicht an Julie heran. »Du hast ja eine Gänsehaut, meine Kleine. Frierst du?«
    Sie wich einen Schritt zurück. »Nein, danke, es ist alles in bester Ordnung.«
    Der Direktor versicherte, sie könnten ganz beruhigt sein, Störungen wie beim ersten Konzert werde es diesmal nicht geben, weil er sechs kräftige Saalwärter angeheuert habe.
    Alle schlüpften rasch in die originellen Kostüme, die Narcisse angefertigt hatte: Léopold war eine orangefarbene Ameise, Francine eine grüne Gottesanbeterin, Zoé ein roter Marienkäfer mit schwarzen Punkten, Ji-woong ein schillernder Skarabäus und David eine bräunliche Grille. Narcisse selbst verwandelte sich in eine buntscheckige Heuschrecke.
    Während sie ein letztes Mal kontrollierten, ob ihre Bühnendekorationen funktionierten, platzte Marcel Vaugirard für ein Interview herein. »Das Konzert werde ich mir auch heute nicht anhören«, verkündete er. »Aber Sie müssen doch zugeben, daß mein letzter Artikel den Nagel auf den Kopf getroffen hat.«
    Julie dachte insgeheim, wenn alle Journalisten so wie er arbeiteten, bekäme man in Presse und Fernsehen ein sehr verzerrtes Bild der Realität geliefert, aber sie wollte kurz vor dem Konzert keinen Streit vom Zaun brechen und murmelte deshalb versöhnlich: »Ja, Sie haben eine gute Rezension geschrieben.«
    Zoé war angriffslustiger. »Würden Sie mir bitte erklären, warum Sie nicht hierbleiben wollen? Ich begreife das nicht.«
    »Ich dachte, ich hätte mich neulich unmißverständlich geäußert. ›Nur über das, was man nicht kennt, kann man gut schreiben‹. Leuchtet Ihnen das nicht ein? Überlegen Sie doch mal! Wenn man sich auf irgendeinem Gebiet gut auskennt, ist man nicht mehr objektiv, weil einem die nötige Distanz fehlt.
    Die Chinesen sagen, wer sich einen Tag in China aufhalte, schreibe ein Buch, wer einen Monat dort bleibe, schreibe einen Artikel, und wer ein Jahr ausharre, schreibe gar nichts mehr.
    Das ist stark, nicht wahr? Und es läßt sich auf alles andere übertragen. Schon in meiner Jugend …« Julie begriff plötzlich, daß dieser Journalist im Grunde nur davon träumte, selbst interviewt zu werden. Marcel Vaugirard war nicht neugierig auf diese neue Musikgruppe. Er war auf gar nichts mehr neugierig. Sein sehnlichster Wunsch war, daß Julie ihn bewundernd fragte, wie er diese journalistische Weisheit entdeckt habe, wie er davon Gebrauch mache, und welche Position er in der Lokalredaktion des Clairon einnehme.
    Sie sah, daß er weiter die Lippen bewegte, hörte seinem Geschwätz aber nicht mehr zu, so als hätte sie beim Fernseher den Ton abgestellt. Dieser Journalist glich dem Taxifahrer von neulich: Beide hatten ein ungeheures Mitteilungsbedürfnis, wollten ihrerseits aber nicht zuhören. Marcel Vaugirard gab zweifellos in jedem seiner Artikel etwas von sich selbst preis, und wenn man seine gesammelten Werke lesen würde, wüßte man über seine ganze Biografie Bescheid – über den Werdegang eines weisen Helden der modernen Presse!
    Der Direktor des Kulturzentrums berichtete begeistert, der Saal sei völlig ausverkauft, und sogar die Stehplätze würden allmählich knapp.
    »Hört euch das nur mal an!«
    Die Menge skandierte lautstark: »Ju-lie! Ju-lie! Ju-lie!« Das junge Mädchen glaubte zu träumen. Die Zuschauer riefen nicht nach der ganzen Gruppe, sondern nach ihr! Sie spähte durch den Vorhang, und der Anblick des begeisterten Publikums verschlug ihr den Atem.
    »Na, wie fühlst du dich?« fragte David.
    Sie wollte antworten, brachte aber keinen Ton hervor, räusperte sich und krächzte heiser: »Ich … habe … keine …
    Stimme … mehr!«
    Die Sieben Zwerge tauschten bestürzte Blicke. Wenn Julie nicht singen konnte, fiel das ganze Konzert ins Wasser!
    Sie selbst erinnerten sich an den Alptraum, in dem sie keinen Mund mehr gehabt hatte, nur noch ein Kinn, das bis zur Nase reichte … Verzweifelt gestikulierte sie, daß man das Publikum nach Hause schicken müsse.
    »Das ist nur Lampenfieber«, versicherte Francine tröstend.
    »Ja, das ist nur Lampenfieber«, bestätigte der Direktor. »Vor wichtigen Auftritten ist so etwas ganz normal,

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