Die Rose von Angelâme (German Edition)
tatsächlich opfern, um das Geheimnis durch die Aufzeichnungen der Inquisition in die Zukunft tragen zu lassen, das zu schützen die Eingeweihten vor Jahrhunderten geschworen und im Laufe der Zeit an andere Auserwählte weiter gegeben hatten?
Wollten sie auf diese Weise sicher gehen, dass sich ihre Aufgabe erfüllte?
Warum glaubten sie, dazu solche Mittel anwenden zu müssen?
Warum glaubten sie nicht daran, dass die Prophezeiung ihren Weg selber finden würde?
Warum, Herrgott nochmal, glaubten sie nicht einfach?
Er stand mit geballten Fäusten vor dem schlichten Kreuz in der zum Anwesen des Weinhändlers gehörenden Kapelle und schrie seinen Schmerz hinaus, den er mit niemandem teilen durfte.
„Warum lässt du das zu?“, fragte er mit gebrochener Stimme in die Stille des Gemäuers hinein. „Hast du denn kein anderes Mittel, deinen Willen geschehen zu lassen, als durch diesen unwürdigen Tod einer Unschuldigen?“ Er schlug die Hände vors Gesicht und ließ seinen Tränen freien Lauf. Dann richtete er sich wieder auf und warf hilflos die Arme nach oben, um sie dem Gekreuzigten in verzweifelter Geste um die fest genagelten Beine zu schlingen. „Ah, ich vergaß: Du hast sogar deinen geliebten Sohn abschlachten lassen. Warum nennst du dich einen Gott der Liebe, wenn du die Liebe derer, die dir nachfolgen, auf so grausame Weise zerstörst?“
„Nicht er nennt sich so“, ließ sich die Stimme Jacques’ vernehmen, der lautlos eingetreten war und Albert eine Hand auf die Schulter legte. Albert ließ die Arme sinken und fiel in sich zusammen.
„ Wir nennen ihn so.“ Er schwieg einen Augenblick lang und schaute mitleidig auf den Mann nieder, der völlig gebrochen vor ihm auf den kalten Fliesen kniete. „Dieser Gott kann Rose töten und meinen Glauben an die Kirche, aber nicht meinen Glauben an unsere Aufgabe.“
Albert sank Tränen überströmt vor dem Altar zusammen und schluchzte haltlos.
Einige Tage später verabredete Jacques ein Treffen mit einem Mittelsmann der Bruderschaft, und als er spät abends zu Albert zurückkam, der wie so oft in der vergangenen Zeit halb wahnsinnig vor Angst um seine Frau in seinem Zimmer auf und ab gelaufen war, schüttelte er verzweifelt den Kopf.
„Es ist gekommen, wie wir befürchtet haben“, begann Jacques tonlos. „Es ist die Pflicht der Eingeweihten, das Geheimnis um jeden Preis zu schützen. Sie haben deshalb beschlossen, es ausgerechnet durch den Mann in die Zukunft tragen zu lassen, der am erbarmungslosesten darum kämpfen wird, es an sich zu reißen: durch Guillaume Imbert von Paris, den neuen Großinquisitor Frankreichs.“
„Ich dachte, de Nogaret stecke dahinter.“
„Auch. De Nogaret verfolgt sein eigenes Ziel, seitdem er dem unglücklichen Bonifatius einen Teil seines Geheimnisses entrissen hat.“
„Dann sind alle drei hinter demselben Ziel her“, murmelte Albert und rang verzweifelt die Hände. „De Nogaret, der König und der Dominikaner.“ Er sah müde und kraftlos aus und Jacques empfand tiefes Mitleid mit ihm. „Jener ist nicht nur ein domini cane, er ist ein Teufel im Priestergewand!“
„Durch sein Vorgehen ist er immerhin in der Lage, unserer Sache zu dienen! Er bekommt genau so wenig Aufschluss über das Geheimnis, hinter dem er herhechelt, wie de Nogaret. Es wird geschehen, wie es vorgesehen ist.“
„Aber was geschieht mit Rose?“, fragte Albert verzweifelt und griff nach den Händen des alten Mannes. „Sie weiß doch von gar nichts. Was sollte sie ihnen denn sagen? Nicht einmal ich kenne den vollen Wortlaut der Prophezeiung, nicht einmal ich wäre ihnen nützlich, wenn sie mich denn foltern und befragen würden! Was denkt die Bruderschaft, was sie ihnen sagen könnte, das für die Nachwelt erhalten bleiben muss?“ Er sank auf seine Ellbogen, hob die Hände hinter den Nacken und wiegte sich wie ein Kind hin und her. Dabei weinte er ununterbrochen. „Was also soll das unsinnige Geschwätz davon, dass das Gerichtsprotokoll der Inquisition die Prophezeiung in die Zukunft trägt? Das Protokoll wovon?“
„Albert!“
Albert schüttelte die Hand des Oheims wütend ab, die dieser auf seine Schulter gelegt hatte.
„Sie weiß doch nichts! Sie weiß nicht einmal etwas davon, was seit Jahrhunderten auf den Schultern der Männer lastete, die mit ihren Groß- und Urgroßmüttern verheiratet waren! Sie kennt nicht den Eid unendlich vieler Männer, die wie die Zuchtstiere für den Fortbestand dieser Linie zu sorgen und dann aus dem
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