Die Ruhelosen
seichter Pop. Oder Staumeldungen, ha! Statisches Rauschen und Kratzen. Aude drehte am Tuner. Bei 87,9 hakte er ein, und ihr Wagen füllte sich mit überraschend sphärischen Klängen. Aude horchte auf. Wie passend, ich hänge hier in einem Tunnel fest, und im Radio spielen sie Elfenmusik. Dann ging es endlich wieder etwas vorwärts, und Aude konnte kontinuierlich rollend den Gubristtunnel hinter sich lassen. Nach dem ersten Stück, das wie eine Mischung aus einem Enya-Song und einem Geigen-Arrangement klang, folgte ein Oboensolo, in dessen Hintergrund ein Chor hmmmte. Spannende Sache, vielleicht Ethno-Stunde. Sie konzentrierte sich auf den Straßenverlauf, sie musste in Richtung Urdorf fahren und dann immer schön den Schildern »Westring« nach. Der Verkehr tropfte noch immer zähflüssig den Mittelstreifen entlang, es wechselten nur Idioten von der rechten in die linke Spur. Aude blieb, wo sie war, und das hieß hinter dem blauen VW Golf.
Der Himmel war bestückt mit leichten Wölkchen, und das nun einsetzende Harfensolo passte sich den Sonnenstrahlen an, die auf die Erde rieselten. Eigentlich ein perfekter Morgen. Die Autokolonne blieb in Fahrt, langsam zwar, aber dennoch, es bewegte sich etwas.
Aude dachte an ihren Sohn. Jetzt war er also groß und erwachsen, liiert, wie er sagte, mit einer jungen Frau. Halb Türkin, halb Kurdin. Ihre Eltern wussten noch nichts davon, aber Aude wollte er die Schöne bald vorstellen. Wardas kurdische Musik, die sie da hörte? Sie drehte das Radio lauter, ihr Nacken bewegte sich langsam zu der Melodie.
Sie fuhr ruhig und entspannt, obwohl die Zeit vorrückte. Sie hatte diese Route gewählt, jetzt musste sie sie fahren. Pragmatische Folgerichtigkeit. Der Lauf der Dinge eben.
Bis sie nach dem Üetlibergtunnel beim Kreuz Zürich Süd, Höhe Brunau, eine Tempo-80-Rampe hinauf endlich auf die gewohnte Strecke der A3 einschwenken konnte, hatte Aude alle Zeit, die lichte Höhe der neuen Tunnels zu bewundern.
Und mit einem Radioprogramm, das dermaßen außergewöhnlich war – die Stücke zwar nur kurz, fast so, als ob sie jemand lediglich anspiele und dann wieder ausblende, aber doch jedes für sich wie ein Unikat behandelt, mit zwei, drei Sekunden Zwischenpause –, fühlte sie sich beinahe so leicht wie eines der Wölkchen am Himmel, fühlte sich fast ein bisschen wie in früheren Forscherzeiten, als sie tagelang im archaischen Rheindelta auf Vogellaute horchte. Eine Klangteppichentdeckungsreise unterwegs auf der A3.
Entlisbergtunnel. Trommelklänge. Ein bisschen wie Kodo. Japanische Präzision. Muskel und Beherrschung. Nicht korrumpierbare Struktur. Audes Herz klopfte mit.
Wollishofen, jetzt müsste es bald einen Ruck geben, Beschleunigung, Weiterfahrt in gewohntem Tempo. Die Zeit reichte. Gut sogar. Erstaunlich, dass da noch immer keiner moderierte.
Aude versuchte die einzelnen Instrumente der Stücke auszumachen. Ein Cembalo, eine Panflöte, ein Fagott vielleicht. Hin und wieder eine Stimme oder ein Choral. Sanft, im Hintergrund Raum gebend und dadurch einnehmend. Eigenartig, 87,9, was das wohl für ein Sender war? Die nationalen Radioprogramme nutzten andere Frequenzen. Vielleicht ein Alternativradio. Vielleicht ein Versuch.
Ein schöner.
Plötzlich tat sich links eine längere Lücke auf, und der blaue VW Golf scherte aus, zog auf der Überholspur an zwei, drei, vier Wagen vorbei und fügte sich dann wieder rechts ein. Fast zeitgleich machte sich in Audes Škoda ein unangenehmes Knarren und Knattern breit, dann ein Rauschen, die üblichen Suchgeräusche eines Radios unterwegs nach einem neuen Signal. Aude drehte leiser. Verärgert schaute sie auf die Uhr, kein Grund zur Besorgnis. Sie warf einen Blick in den Innenspiegel, dann einen kurzen Blick in den Außenspiegel, setzte den Blinker und schnappte sich selbst eine Lücke. Langsam überholte sie Wagen für Wagen. Als sie neben dem blauen Golf auf Schulterhöhe war, setzte die Musik wieder ein. 87,9, dieselbe Frequenz. Kein Moderator, keiner, der Nachrichten oder Staumeldungen sprach, dafür wieder Reifenumdrehung für Reifenumdrehung dies: wunderschöne Gesänge einer Frau, ungewohnte Klänge, gewagte Arrangements, überraschende Tonfolgen und Momente der Stille, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund-, gute drei Sekunden lang.
Kaum, dass Aude noch einen Wagen überholte, einen schwarzen Jeep Wrangler Ultimate, sackte die Musik im Knattern des Äthers ab und verschwand. Wie weggeblasen, davongetragen, Aude hörte nur
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