Die Samenhändlerin (German Edition)
gestern selbst erzählt«, sagte sie zu Valentin. »Aber Tulpenzwiebeln? Das ist doch …« Sie machte eine abfällige Handbewegung. Für so viel Dummheit fand sie einfach keine Worte.
»Bei dir muss immer alles praktisch sein!«, giftete Seraphinezurück. »Das ist wieder einmal bezeichnend für dich. Ich hingegen kann diese Tulpenliebhaber sehr gut verstehen. Wenn die Sehnsucht nach … nach etwas Bestimmtem so groß ist, dass sie jedes andere Gefühl, den Verstand und jede Vernunft überdeckt, oh, wie groß ist dann die Versuchung, alles dafür zu geben! Aber so etwas kann nur ein leidenschaftlicher Mensch verstehen.« Sie zog eine verächtliche Grimasse.
»Was ist? Wollt ihr gackern wie dumme Hühner, oder wollt ihr den Rest der Geschichte hören?« Valentin schaute von einer Frau zur anderen.
»Ja, erzähl weiter, damit Seraphine erfährt, wie schlechte Märchen enden können.« Hannah biss so fest die Zähne aufeinander, dass ihr der Kiefer wehtat. Es gab Momente, in denen sie Seraphine nach wie vor hasste. Da stand sie mit all ihrer Schönheit, faselte etwas von Leidenschaften und starrte dabei Helmut an! Nicht etwa Valentin. Und wenn Helmut ihr hundert Mal versicherte, Seraphine sei ihm gleichgültig, so half dies doch nicht, Hannahs Eifersucht dauerhaft zu löschen. Nur mühsam vermochte sie sich auf Valentins Worte zu konzentrieren.
»Es gelangte also eine Menge Geld in Familien, die zuvor nicht einmal gewusst hatten, wovon sie den nächsten Laib Brot kaufen sollten. Das waren die Leute nicht gewohnt! Statt etwas von dem Geld beiseite zu legen oder ins Geschäft zu investieren, wurden sie unvernünftig. Plötzlich wollte jeder große Sprünge machen, seinen Nachbarn mit noch schöneren Kleidern übertrumpfen, noch edleren Rössern – von allem eben noch mehr! Viele gaben mehr aus, als sie hatten, und scherten sich nicht darum. Die nächste Tulpenzwiebelernte würde sie schließlich noch reicher machen …«
»Das gibt’s bei uns in Gönningen auch«, warf Helmut ein. »Statt wieder ins Geschäft zu investieren, verlieren manche ihr Geld lieber beim Glücksspiel oder sonstigen Dummheiten.«Als er sah, wie Seraphine bei diesen Worten zusammenzuckte, stammelte er. »Ich meine …«
Hannah, die zwar kein Mitleid mit Seraphine hatte, sehr wohl aber mit ihrem Mann, half ihm aus der Patsche, indem sie schnell das Thema wechselte.
»Ich ahne Schlimmes: Wenn so viele Leute auf einmal Tulpen züchteten, dann waren sie irgendwann nicht mehr so rar wie einst. Und das bedeutete –«
»Dass die Preise fielen!«, fuhr Valentin dazwischen, der sich nicht um seine Pointe bringen lassen wollte. »Genau!« Er warf Hannah einen anerkennenden Blick zu.
»Plötzlich gab es Tulpenzwiebeln in rauen Mengen. Und die Käufer weigerten sich, den Preis, den sie zu einem früheren Zeitpunkt vereinbart hatten, zu zahlen. Da kam es bestimmt zu äußerst unschönen Szenen …«
»Die Tulpenzüchter blieben auf ihren Zwiebeln hocken, hatten plötzlich Körbe voller wertloser Ware. Schließlich brach alles zusammen, und viele Menschen, die ihr ganzes Leben den Tulpen verschrieben hatten, verarmten«, ergänzte Helmut. Er zeigte mit der rechten Hand in Richtung der Stadt, die sie inzwischen hinter sich gelassen hatten. »So gesehen gibt es hier nicht nur eine ›geldlose Straße‹, sondern sicher viele. Die eine ist breiter, die andere schmaler, aber alle erzählen sie von menschlicher Unvernunft und Dummheit.« Er schüttelte den Kopf. »Eines ist sicher: So gierig wie unsere Vorväter werden wir uns bei Piet heute gewiss nicht anstellen!«
45
Sie hatten das Große Waldtor und damit Haarlem kaum hinter sich gelassen, als eine heftige Diskussion über die weitere Wegstrecke entbrannte. Die beiden Frauen wollten unbedingt das Meer sehen, die Männer auf dem schnellsten Weg zum Tulpenhof gelangen. Bis zum Meer wären es gut und gern fünf Meilen, argumentierten die Brüder, und zu Fuß über den sandigen Boden würde man den halben Vormittag für diese Strecke benötigen – Zeit, die ihnen dann bei Piet van den Veyen fehlte. Schließlich wurde der Ausflug ans Wasser auf später verlegt.
Sie stapften durch eine dünenartige Landschaft, an Deichen entlang, bahnten sich ihren Weg durch hohe, bizarre Gräser und kamen an der einen oder anderen Gracht vorbei, die das Meer mit der Stadt verband.
Der Boden war sandig und warm, und Hannah bestand darauf, barfuß zu gehen. Am Ende krempelten auch die Männer ihre Hosenbeine
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