Die Schrift in Flammen
gleichen überraschenden und unheilvollen Fragen, sie forderten ihn heraus, riefen nach Antworten und Entscheidungen. Alles traf also zu, was man über den Thronfolger flüsterte. Man plant im Schloss Belvedere die Vernichtung der alten ungarischen Verfassung.
Das Programm – wie war es nur? – ja: stärkere Zentralisierung … in einem gemeinsamen Reichsrat … verbündete Kronländer … gemäß den Nationalitäten, entsprechend den zahlenmäßigen, statistischen Anteilen … Und all das wozu? Zu welchem Zweck? Um hernach »auf dem Balkan eine Politik großen Stils« zu ermöglichen? Eine Politik großen Stils mit unseren Soldaten, unseren Steuergroschen und unserem Blut? Um auf diese Weise der Dynastie Vasallenkönigreiche zu erwerben – hinunter bis zum Marmarameer? Deshalb?!
Soll Tisza deswegen den weiteren Ausbau der Armee durchsetzen, damit es hernach umso leichter fällt, »Ordnung zu schaffen«? Damit man uns das neue System umso leichter aufzwingen kann? Und wenn Tisza deswegen unpopulär werden sollte? Noch besser. Ein Hindernis weniger. – Diese Gedanken kehrten jedes Mal wieder, wenn Bálint allein blieb.
Als parteiloser Beobachter der abermaligen technischen Obstruktion im Parlament und als Zuhörer bei den vielen Ansprachen hatte er bisher die Argumentation der oppositionellen »Kämpfer« überaus unbegründet und die zahllosen wohlklingenden Sprüche, die aus ihrem Wortschatz stammten, leer gefunden. Ihn ekelte es vor der stets gekünstelten Empörung, den angeblichen Überraschungen und dem ständigen Poltern, die samt und sonders nur den Interessen und den Launen der Parteien dienten; ebenso verabscheute er die unzähligen künstlichen Missverständnisse und Wutausbrüche, welche die Opposition inszenierte, mochte Ministerpräsident Tisza noch so ehrliche Gründe ins Feld führen. Die Erinnerung an jene letzte Abendsitzung wirkte bei Abády besonders nach, war doch damals vollends offenbar geworden, wie sehr es sich um Verstellung und Rollenspiel handelte. Der vorgeschützte Sturm in der Saalmitte, die emporgeschleuderten Papiere hatten ihn beim Abgang sogar zu Überlegungen darüber veranlasst, ob er der Partei, die dem ufer- und nutzlosen Geschwätz, dem Starrsinn und der Zeitschinderei ein für alle Mal ein Ende setzen wollte, nicht doch beitreten sollte. Weiter bestärkt in dieser noch unausgereiften Entscheidung wurde er durch die eitle Debatte, die hier in Simonvásár Onkel Louis, Lubiánszky und Wuelffenstein beim ersten Nachtmahl geführt hatten, durch ihre offenkundignur dem Neid und der hochherrschaftlichen Antipathie entspringende Kritik.
In den ausländischen Verhältnissen bewandert, kannte er die gesteigerten Rüstungsanstrengungen anderer Staaten und gab denjenigen recht, die für die Modernisierung der Armee eintraten. Doch jetzt hatte sich das Bild, das sich ihm darbot, durch die Vertraulichkeit Slawatas verändert. Ihm schien, dass zwei Lager, ohne sich der Umstände voll bewusst zu sein, einen Kampf austrugen. Denn auf einer Seite stand Tisza, er schlug sich für den Ausbau der Armee, die der kommende Kaiser gegen ihn einsetzen wird. Die andere Seite, die Opposition, focht mit törichten Argumenten und für naive Ziele – Degenquaste, Kommandosprache –, sie spürte aber instinktiv richtig, dass die Verfassung wenn nicht unmittelbar, so doch in recht naher Zukunft tödlich bedroht sein könnte. »Kaiserlicher Staatsrat« – wo war er schon einmal auf diesen Ausdruck gestoßen?
Er entsann sich, dass sein Großvater ihm einmal darüber erzählt hatte. Bach hatte damit – vielleicht 1852 – bereits einen Versuch gemacht. Einzelne ungarische Herren, die nach der Abdankung der Regierung Batthyány nicht in der Gefolgschaft Lajos Kossuths verblieben waren, ernannte er ohne deren Wissen zu Mitgliedern des Staatsrats. Péter Abády befand sich unter ihnen. Er schickte das ihm zugestellte Patent umgehend zurück. Franz Joseph, der damals noch junge Kaiser, zürnte ihm sehr und verzieh ihm erst nach vielen Jahren, unmittelbar vor der Krönung. Das war eine der wenigen Mitteilungen, die der alte Péter Abády zufällig über sich selbst machte. Bálint hörte seine Stimme immer noch, wie er lachend hinzufügte: »Man begriff in Wien niemals, dass wir uns darum zurückgezogen hatten, weil wir Világos voraussahen, und nicht um der Österreicher willen.« Ja! Damals hatte man diesen Versuch schon einmal gemacht. Und Schmerling versuchte 1861 mit dem Oktoberdiplom das genau
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