Die Schuldlosen (German Edition)
das hatte er nicht erwartet, nachdem sich in den letzten Jahren alles in ihm und für ihn verändert hatte.
Als er wieder nach oben kam, stand Saskia vor dem mit Süßigkeiten beladenen Tisch und konnte sich nicht entscheiden, in welche Kristallschale sie zuerst greifen sollte. Er rief sie zu sich und ging wieder mit ihr in die Küche.
Während sie dort endlich den Regenmantel und die Gummistiefel auszog, holte er einen Tetrapak Milch aus der Speisekammer. Beim Gedanken an den Kakao, so wie Frau Schmitz ihn früher gekocht hatte, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er setzte einen Topf auf den Herd und goss die Milch hinein.
Hinter ihm stellte Saskia fest: «Ich hab ganz nasse Füße.»
«Das bleibt nicht aus bei dem Wetter», meinte er und riet: «Zieh die Strümpfe aus und häng sie über die Stuhllehne.»
«Ich hab gar keine Strümpfe an», erklärte sie. «Das ist eine Strumpfhose.»
«Dann zieh eben die aus.»
«Da muss ich aber zuerst die Jeans ausziehen.»
«Ja, mach doch», sagte er. «Oder genierst du dich?»
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie den Kopf schüttelte und dabei die Lippen schürzte. Also genierte sie sich doch. «Hey», sagte er wieder in dem beschwichtigenden Tonfall. «Ich bin’s, dein Papa. Vor mir brauchst du dich wirklich nicht zu schämen. Ich hab schon mehr von dir gesehen als nackte Beine. Schon vergessen, was ich dir heute Morgen erzählt habe? Ich hab deine Windeln gewechselt und dich gebadet, die Hand unter deinen Po gehalten, damit du dich in dem kalten Becken nicht erschreckst. Einmal hast du mir bei so einer Gelegenheit in die Hand geschissen.»
«Igitt.» Saskia verzog angewidert ihr Gesicht.
«Nix igitt», sagte er. «Bei Babys ist das nicht eklig. Solange sie nur Milch trinken, riecht es so ähnlich wie Joghurt. Jetzt mach schon. Ich guck auch nicht hin, versprochen. Ich hab mich doch auch umgezogen. Wenn du das nasse Zeug anbehältst, kriegst du einen Schnupfen.»
Damit drehte er sich demonstrativ dem Herd zu. Während er in einer Tasse Kakaopulver mit Zucker mischte und mit etwas Milch verrührte, entledigte Saskia sich ihrer feuchten Jeans und der Strumpfhose, setzte sich in ihrer Unterwäsche auf den Stuhl vor die Heizung und wackelte mit den nackten Zehen.
«Ich glaub, ich hab auch kalte Füße.»
«Halt sie hoch», riet er. «Ich trag dich gleich rüber. Dann musst du nicht über den Steinboden laufen.»
Nachdem der Kakao fertig und in zwei große Becher gefüllt war, ließ sie sich ohne Widerspruch oder spürbaren Widerstand auf den Arm nehmen. Er hatte sogar den Eindruck, dass sie es genoss, was er auf jeden Fall tat.
Dann saß sie mit angewinkelten Beinen, vom Bauch bis zu den Füßen in die Decke gewickelt neben ihm auf der Couch und löffelte Eis mit Walnüssen und Krokant. Auf dem Tisch dampften die heißen Kakaobecher. Er blätterte die Seiten im ältesten Album um, strich ihr mal verstohlen übers Haar, mal ganz leicht über eine Wange, glaubte dabei innerlich zu zerreißen und erklärte ihr, wer auf den Aufnahmen zu sehen war.
Aber seine Großeltern interessierten sie nicht. «Wann kommen denn die Fotos, auf denen ich ganz klein war?»
«Leider hab ich nur das eine, das ich dir gestern gezeigt habe», gestand er. «Im Krankenhaus darf man nicht so oft fotografieren, wie man möchte. Ich hätte wohl noch ein paar Aufnahmen von dir im Brutkasten machen können, wenn Heike dich nicht …»
Als er abbrach, erkundigte sie sich zögernd: «Willst du Heike jetzt bei der Polizei anzeigen?»
«Meinst du, ich sollte das tun?», fragte er.
Zuerst zuckte sie unsicher mit den Achseln, dann schüttelte sie energisch den Kopf.
«Gut», sagte er. «Wenn du das nicht möchtest, tu ich es nicht.»
Sie gab ihm das leere Eisschälchen, damit er es auf den Tisch stellte. Dann ließ sie sich andere Süßigkeiten anreichen, blätterte dabei selbst eine Seite um, rückte noch näher, kuschelte sich an ihn und sagte: «Meine Füße sind immer noch ganz kalt. Ich glaub, nur von der Decke werden die nicht warm.»
«Was machen wir denn da?», fragte er.
«Vielleicht kannst du sie ein bisschen reiben», schlug sie vor. Das hatte sie mal bei Tanja Breuer und deren Vater gesehen und ganz toll gefunden. Tanjas Vater hatte sich Tanjas Füße sogar unter den Pullover gesteckt, aber den Vorschlag mochte sie nicht machen.
Ihm verschlug es auch so den Atem. «Ja, wenn du meinst, dass es hilft», sagte er. Und dann rieb er ihr die kalten Füße und die nackten Beine.
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