Die Schule der Nacht
Genau das dachte April auch. Oberfaul.
»Was soll ich denn jetzt machen, Fee?«, fragte sie verzweifelt.
»Ich weiß es nicht, Süße. Vielleicht liegt es ja auch einfach nur am Handy?«
Nein, dachte April. Sie konnte es Fiona nicht erklären, sie war nicht auf der Party gewesen. Für einen Außenstehenden sah es vielleicht so aus, als wäre ihre Handykamera defekt oder als wären irgendwelche seltsamen Lichteffekte für das Fehlen der beiden Jungs auf den Fotos verantwortlich. Aber sie war dort gewesen. Sie hatte diese Jungs gesehen. Einen von ihnen hatte sie sogar geküsst!
»April? Bist du noch dran?«
»Sorry, Fee, aber ich muss los«, sagte April plötzlich.
»Wohin? Was willst du denn jetzt machen?«
»Erst mal geh ich in die Schule zurück, um mich vor jemandem auf die Knie zu werfen und mich zu entschuldigen, und dann…«
»Was dann?«
»Danach gehe ich in die Bibliothek.«
Zwölftes Kapitel
A pril schaffte es gerade noch, rechtzeitig zur Englischstunde in der Schule zu sein. Verschwitzt schlüpfte sie ins Klassenzimmer und stellte erleichtert fest, dass in der letzten Reihe neben Caro noch ein Platz frei war. Caro nahm sie gar nicht zur Kenntnis, als sie sich neben sie setzte, sondern starrte trotzig geradeaus. Also riss sie von ihrem Block ein Stück Papier ab, schrieb eine Nachricht drauf und schob sie ihr rüber.
Tut mir leid, dass ich so überreagiert und dich angeschrien hab. Friede?
Caro nahm Aprils Stift und kritzelte darunter: Nur wenn du mir nachher ein Stück Kuchen spendierst.
April grinste und nickte. Heute Abend um sieben im Americano?
Caro hob den Daumen hoch und schrieb: Hab einen Plan bezüglich der bösen Gerüchte. Und jetzt würde ich gern wieder dem Unterricht folgen, manche von uns sind nämlich hier, um was zu lernen…
April unterdrückte ein Kichern. Sie lasen gerade »Hamlet«, dessen Handlung trotz der Morde und Geister und der verschrobenen Shakespeare’schen Sprache nach allem, was April in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte, geradezu beruhigend normal wirkte.
»Viele Literaturwissenschaftler vertreten die Ansicht«, sagte Mr Andrews, ihr Englischlehrer, gerade, »dass ›Hamlet‹ den Reifungsprozess des Menschen von der Jugend bis zum Erwachsensein – oder wenn Sie so wollen, von der Geburt bis zum Tod – verkörpere.«
April schrieb alles brav mit, obwohl sie persönlich der Meinung war, dass diese Literaturwissenschaftler Mist erzählten. Ihrer Ansicht nach war die Geschichte ganz einfach: Hamlets Onkel Claudius hat seinen Vater umgebracht, der ihm daraufhin als Geist erscheint und von ihm verlangt, sich an dem bösen Onkel zu rächen. Also bringt Hamlet seine Freundin dazu, sich umzubringen, anschließend gibt es einen erbitterten Schwertkampf, und am Ende sind alle tot. Der gute Hamlet hatte es eigentlich ganz schön einfach gehabt.
April hätte sich gewünscht, ihr würde auch ein Geist erscheinen, der ihr sagte, was es mit den Fotos auf sich hatte und was sie jetzt tun sollte. Hatte Caro recht? Waren Milo und der andere Junge deswegen nicht auf den Fotos zu sehen, weil sie Vampire waren? Waren sie womöglich die Vampire, auf die sich ihr Vater in seinem Notizbuch bezogen hatte? Sie schüttelte den Kopf. Jetzt ließ sie sich auch noch von diesem Unsinn anstecken! Nur weil sie mit ihrer Handykamera ein paar unbrauchbare Fotos geschossen hatte – nachdem sie ungefähr acht Cocktails intus gehabt hatte –, hieß das noch lange nicht, dass tatsächlich irgendwelche Untoten auf der Erde wandelten.
»›Hamlet‹ gehört zu den Stücken Shakespeares, die heute immer noch genauso aktuell sind wie damals, weil die Mehrheit der Zuschauer sich mit Hamlets innerem Kampf identifizieren kann«, sagte Mr Andrews. »Er weiß nicht, ob er dem Geist glauben soll oder nicht, ist von Menschen umgeben, die alle Hintergedanken haben, und sucht alle möglichen Ausreden, um die Entscheidung hinauszuschieben und nicht handeln zu müssen. Genau das ist der Dreh- und Angelpunkt des Stücks: Was ist besser – denken oder handeln? Kopf oder Herz? Und mit genau diesen Fragen müssen auch wir uns im wirklichen Leben Tag für Tag aufs Neue auseinandersetzen.«
Wem sagst du das, dachte April.
Kaum hatte es gegongt, sprang sie von ihrem Platz auf, winkte Caro flüchtig zu und machte, dass sie aus dem Klassenzimmer kam. Sie wollte so schnell wie möglich verschwinden, um den Blicken der anderen zu entgehen, die über ihre angebliche Orgie mit Marcus Brent und
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