Die Schwestern von Sherwood: Roman
und zog sie zu sich. »Sehen Sie zu, dass Sie hier verschwinden. Glauben Sie mir, für eine Deutsche sind es immer noch gefährliche Zeiten hier bei uns in England!«
Die Drohung, die ihr aus seinen Augen entgegenschlug, war nicht misszuverstehen. Genauso plötzlich, wie er sie gegriffen hatte, ließ er sie wieder los und drehte sich um. Fassungslos sah sie ihm hinterher, wie er mit lässigen Schritten zurück zu seinem Sportwagen ging.
Der Motor heulte erneut auf, als er mit quietschenden Reifen wendete und davonfuhr.
Erst jetzt merkte Melinda, dass sie noch immer vor Schreck am ganzen Leib zitterte.
64
A ls sie ins Postbridge Inn zurückkehrte, war es im Haus schon still. Sie lief den dunklen Flur entlang zu ihrem Zimmer, das sich im Seitenflügel befand, und schloss hinter sich die Tür ab. Mit weichen Knien sank Melinda aufs Bett. Dabei glitt ihr Blick durch den Raum. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck, jemand wäre hier gewesen. Hatte sie die Zeichnungen auf dem Tisch liegen lassen? Sie war sich nicht sicher. Litt sie schon an Verfolgungswahn? Sie sah im Geiste Henry Tennysons kalten Gesichtsausdruck vor sich, der keinen Zweifel gelassen hatte, dass er es ernst meinte. Glauben Sie mir, für eine Deutsche sind es immer noch gefährliche Zeiten hier in England. Sollte sie vielleicht wirklich abreisen? Melinda fröstelte. Von Anfang an, schon in der Bar, hatte er es darauf angelegt, ihr Angst zu machen. Doch warum? Und woher hatte er überhaupt gewusst, wer sie war? Und was war so schlimm an ihren Fragen? Würde sich das Anwesen dadurch wirklich schlechter verkaufen? Es schien ihr nicht vorstellbar, und ihr ging immer mehr auf, dass die Reaktion dieses arroganten Widerlings in keiner Weise angemessen gewesen war. Zwar entsann sie sich, dass Amy, als sie letztes Wochenende mit Mr Fletcher im Oak Inn gewesen war, auch erzählt hatte, dass niemand das Sherwood-Manor kaufen wollte, weil der Geist der toten Sherwood-Schwestern dort noch herumspuken würde, aber das hatte sie lediglich für den üblichen Tratsch gehalten. Nachdenklich strich Melinda sich das Haar aus dem Gesicht und merkte, wie sie sich langsam wieder beruhigte.
Sie betrachtete die ausgerollte Zeichnung auf dem Tisch, auf der Whistman’s Wood und die Hügel des Dartmoors zu sehen waren. Das untrügliche Gefühl ergriff sie, dass es einen anderen Grund für Henry Tennysons Verhalten gab. Er verbarg etwas oder wollte nicht, dass sie etwas entdeckte. Aber was?
Sie träumte schlecht in dieser Nacht. Doch als sie am nächsten Morgen aufwachte und die Sonne in ihr Zimmer schien, hatte die Szene vom Abend ihren Schrecken verloren.
Melinda zog die Vorhänge auf. Im hellen Tageslicht erschien es ihr geradezu lächerlich, wie Tennyson sich verhalten hatte. Vermutlich war er es gewohnt, dass die Menschen in seinem Umfeld taten, was er verlangte. Seine arrogante, selbstherrliche Art wirkte zumindest so. Was ihre Person anging, irrte er sich damit jedoch gewaltig. Melinda würde sich nicht einschüchtern lassen. Seine Drohung hatte genau das Gegenteil erreicht und ihre Neugier nur noch geschürt.
Als sie sich wenig später zum Frühstück begab, war ihr Tatendrang erneut erwacht. Das Wetter war herrlich – ein Tag, wie gemacht, um ihren Ausflug nach Whistman’s Wood nachzuholen, dachte sie. Als sie ihr Frühstück beendet hatte, sah sie, dass der Schwiegervater von Mrs Benson in seinem Lehnstuhl am Fenster saß. Die Wirtin war in der Küche, und die anderen beiden Gäste hatten gerade das Speisezimmer verlassen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging Melinda zu dem alten Mann. Sein faltiges Gesicht, das von schlohweißen Haaren umrandet wurde, wirkte sympathisch. Es gab viele ältere Leute, die hart und verbittert wirkten, doch er strahlte eher etwas Verlorenes aus.
»Guten Morgen. Ich bin Melinda Leewald. Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich, ich war letztes Wochenende schon einmal hier.«
Der alte Mann nickte, doch sie war sich nicht sicher, ob ihre Worte wirklich zu ihm durchgedrungen waren.
»Ich bin Journalistin und schreibe etwas über die Sherwood-Schwestern …«
Sein Blick war plötzlich wach geworden.
»Haben Sie die beiden gekannt?«, fragte sie vorsichtig.
Er beugte sich ein Stück zu ihr und nickte. »Sie ist nicht tot«, erklärte er mit heiserer Stimme. »Glauben Sie nicht, was die Leute erzählen!«
Melinda versuchte zu begreifen, wovon er sprach. »Wen meinen Sie damit? Wer ist nicht tot?«
Doch er
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