Die Schwestern von Sherwood: Roman
antwortete ihr nicht, sondern wandte den Kopf ab und schaute geistesabwesend nach draußen. Fieberhaft überlegte sie, wie sie seine Aufmerksamkeit zurückerlangen konnte. Melinda erinnerte sich, was er am Wochenende zuvor gesagt hatte, und es war rein intuitiv, dass sie den nächsten Satz aussprach: »Aber ich dachte, das Moor hätte sie beide verschlungen?«
Beinah ruckartig fuhr sein Kopf zu ihr herum. Er nickte erneut, und seine geäderten Finger ergriffen mit überraschender Festigkeit ihr Handgelenk.
»Ja, ihre Seelen hat das Moor verschlungen, alle beide. Schon lange bevor alles geschah.«
Melinda konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie merkte überrascht, dass die Hand des alten Mannes zitterte.
»Aber Dad, doch nicht schon wieder diese Geschichte«, erklang in diesem Moment die Stimme von Mrs Benson. Kopfschüttelnd kam sie zu ihnen. »Sprechen Sie lieber nicht mit meinem Schwiegervater darüber. Es regt ihn immer furchtbar auf«, sagte sie seufzend.
»Sie ist nicht tot!«, beharrte Mr Benson.
Mrs Benson tätschelte ihm die Schultern. »Aber natürlich, Dad, sie sind schon lange alle tot.«
Mit einem Mal wirkte er in seiner Aufgewühltheit verwirrt, und Melinda verspürte ein schlechtes Gewissen.
»Es tut mir leid«, sagte sie zu der Wirtin. Sie war aufgestanden und mit Mrs Benson einige Schritte zur Seite gegangen. »Woher kommt es, dass ihn diese Geschichte noch so beschäftigt?«
Die Wirtin zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Im Alter scheint einem die Jugend manchmal näher zu sein als die Lebensabschnitte danach. Vielleicht liegt es daran.«
»Er hat die Sherwood-Schwestern gekannt?«, entfuhr es Melinda.
Mrs Benson nickte. »Ja, mein Schwiegervater hat als junger Mann bei ihnen als Gärtner gearbeitet. Die Unglücksfälle haben ihn damals sicher sehr mitgenommen … Nun genießen Sie aber mal den schönen Tag«, beendete sie dann das Thema und ging zurück in die Küche.
Melinda holte Schal und Mantel aus ihrem Zimmer und war schon auf dem Weg nach draußen, als sich ihr im Flur unerwartet eine Gestalt entgegenstellte. Ausgerechnet! Es war Ned, der Knecht. Er baute sich vor ihr auf. »Sie scheinen Warnungen nicht sehr ernst zu nehmen, was?«
Überrascht schaute sie ihn an. Hatte er ihr Gespräch mit dem Schwiegervater von Mrs Benson belauscht? Plötzlich ahnte sie, dass er derjenige war, über den Henry Tennyson von ihr erfahren hatte.
»Ich lasse mir nicht drohen!«, erwiderte sie kalt und hoffte, dass ihre Stimme ruhiger klang, als sie es selbst war.
»Das könnte ein Fehler sein, Miss.«
Einen Moment lang war sie sprachlos. Ihr lag auf der Zunge, ihn zu fragen, ob die Bensons davon wussten, dass er ihren Gästen drohte und sich zum Handlanger von diesem Tennyson machte, aber dann ließ sie ihn einfach stehen.
65
S ie schlug den Weg zum Fluss ein. Sobald sie sich in der Weite des Moors befand, fühlte sie sich wie befreit. Die Sonne brach immer wieder durch die graue Wolkendecke, und dieses Mal ließ Melinda sich nicht von ihrem Weg abbringen und erreichte nach gut zwanzig Minuten Whistman’s Wood. Das kleine Wäldchen mit den verkrüppelten Eichen und den mit Moos überwachsenen Steinen hatte selbst im Winter etwas Verwunschenes. Dunstige Nebelschwaden hingen zwischen den Bäumen. Melinda konnte gut verstehen, dass sich um den Wald schon immer unheimliche Legenden und Geschichten gerankt hatten. Hätte sie selbst malen können, sie hätte wohl auch den Wunsch verspürt, den Anblick dieses Fleckchens Natur festzuhalten, ging es ihr durch den Kopf, und sie musste an die Zeichnungen denken, die die Atmosphäre hier so gekonnt eingefangen hatten. Wie schön musste es hier erst im Sommer sein! Ihre Gedanken glitten unwillkürlich zu dem Paar, das sich hier einst getroffen hatte – lange bevor sie selbst geboren wurde –, und einen Moment lang schien es ihr, als würde der Wind, der leise durch die Bäume strich, sie wieder zum Leben erwecken. Nachdenklich ließ Melinda sich auf einem der Steine nieder und nahm ihren Imbiss zu sich – zwei köstlich belegte Brote, die Mrs Benson ihr mitgegeben hatte.
Die Landschaft des Dartmoors übte eine eindringliche Anziehungskraft auf sie aus, stellte sie nicht zum ersten Mal fest. Und das lag nicht allein an ihren Nachforschungen. Berlin, die Erinnerungen an den Krieg, der Tod ihrer Eltern und ihre unschöne Trennung von Frank schienen hier weit fort. Selbst die Drohungen dieses Henry
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