Die Seele des Ozeans
raunte sie. „Es geht mir gut.“
Lange lagen sie schweigend da, während der Sturm abflaute und die Wellen sich zurückzogen, bis sie nur noch den nassen Sand unter sich spürte.
Nach wie vor war Kjells Haut fast unmöglich heiß und hielt die Kälte der Nacht von ihr fern.
„Eure Welt ist traurig“, flüsterte er wie im Schlaf. „Die Geister erzählen mir ihre Geschichten, und fast jede ist traurig.“
„Geister?“
Denke nicht so viel nach, Fae. Sei der Moment!
Sie beugte sich vor und leckte salzige Tropfen von dem glatten Elfenbein seines Halses. „Du meinst Geister im Sinne von durchsichtigen Gestalten?“
„Ihr könnt sie nicht sehen.“ Kjell ergriff ihren Arm und zog ihn an seine Brust. „Aber sie sind hier und wittern das Licht in mir. Noch nie war ich so lange an Land. Nie lange genug, damit sie mich finden konnten.“
„Moment mal … meinst du etwa …“
„Ja“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. „Sie ernähren sich von meinem Licht. Es macht sie lebendiger, aber es hält nie lange an. Ich kenne die verlorenen Seelen aus dem Meer, aber die Geister des Landes haben mich noch nie berührt. Sie sind stärker. Wütender und hungriger. Es ging alles so schnell. Ich war unaufmerksam, und auf einmal waren sie da. Viele von ihnen. Zu viele. Nein, keine Angst, an Menschen sind sie nicht interessiert. Euch können sie nichts tun, mir schon.“
Sie schluckte schwer.
Nicht genug, dass Meereswesen in ihre Welt getreten waren. Nun musste sie auch noch an Geister glauben.
„Die Seelen Verstorbener haben dich angegriffen?“
Er nickte, drehte sich um und sah sie an. Sein Blick war gequält und zugleich erfüllt von einer Zärtlichkeit, die ihr den Atem nahm. Mit zittenden Fingern berührte er die Perlen ihres Armbands und strich darüber, als ginge eine ungeheure Faszination davon aus. „Ich konnte mich nicht mehr wehren. Sie waren überall um mich herum. Deswegen bin ich hier, und deswegen schlafe ich im Meer am liebsten im Wrack. Sie meiden Orte des Todes.“
„Sind sie jetzt hier? Hinter den Steinen?“
Er nickte und richtete seinen Blick in die Dunkelheit. Doch hinter den Steinen war nichts als rauschende Nacht.
„Kurz nachdem ich verwandelt wurde“, sagte Kjell, „traf ich auf den Geist eines Hundes. Es war das erste Mal, dass mir so ein Wesen begegnete. Er lebte schon seit vielen Jahrhunderten in einer Ruine, die einmal das Haus seines Herrn gewesen war. Nicht alle Geister sind böse und gierig. Manche sind einfach nur traurig.“
„Was ist mit dem Hund geschehen?“
„Du meinst, als er noch lebte? Er liebte seinen Herrn abgöttisch, wie es alle Hunde tun. Jeden Tag fuhr der Fischer auf das Meer hinaus. Morgens stand der Hund schon am Boot, ehe sein Herr wach wurde, und abends wartete er am Strand, wenn er zurückkehrte. Nachts schlief er vor dem Bett des Fischers, und als seine Frau starb, tröstete er ihn über die Einsamkeit hinweg. Alles war gut, bis Fremde zu dem Mann kamen. Auf einmal veränderte er sich. Immer seltener fuhr er zum Fischen hinaus, bis er eines Morgens das Boot zerschlug. Der Hund vertraute seinem Herrn trotzdem. Sogar dann noch, als er die Axt hob. Der Mann erschlug ihn, legte ihn in das zerstörte Boot und versenkte beide. Seitdem streunt der Geist des Hundes an dieser Küste herum. Er sucht seinen Herrn, weil er nicht begreifen kann, was mit ihm geschehen ist. Seit vielen Jahrzehnten wartet er jeden Morgen und jeden Abend am Strand.“
Die Traurigkeit der Geschichte legte sich wie ein Eisenband um ihr Herz. „Warum hat der das getan?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man ihm ein besseres Leben angeboten. Es ist lange her, wir werden es nie erfahren.“
„Du sagtest, der Hund ist immer noch hier?“
„Er wird so lange hier sein, bis er verstanden hat, was passiert ist.“
„Dann bist du jetzt hier gefangen, nicht wahr? Fallen die Geister über dich her, wenn du den Friedhof verlässt?“
Kjell sah sie auf eine Weise an, die ihr den Atem abschnürte. Denn plötzlich wusste sie, dass sie ihn gehen lassen musste. Heute Nacht, vielleicht für immer. Die Erkenntnis stürzte wie ein Steinschlag auf sie nieder.
„Ich muss fort“, sprach er ihre Befürchtung aus.
„Fort?“
Eine Faust aus Eis rammte sich in ihren Magen und schnürte ihr die Kehle zu. Durfte es so wehtun? Sie kannte ihn doch kaum. Vor kurzem hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass er existierte.
„Warum? Wann?“
„Heute Nacht. Und ich habe nicht vor,
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