Die Seele des Ozeans
der Tastatur des Laptops, sobald sie ihn einen Augenblick lang unbeobachtet ließ. Hin und wieder kletterte er auf ihre Schultern und schmiegte sich wie ein dicker, schnurrender Schal um ihren Hals. Ein anderes Mal wärmte er ihre Füße, indem er sich darüberlegte.
So verging Tag um Tag. Sie schrieb, Alexander und Henry arbeiteten fast ohne Unterbrechung im Technikraum, Ukulele probierte in der Küche eine neue Form des Kochens aus. Keine hawaiianischen Spezialitäten, sondern deftige Hausmannskost, die Fae mit so viel Hunger verspeiste, dass ihre ausgemergelte Gestalt innerhalb einer Woche deutliche Rundungen zeigte. Das Schreiben lenkte ab, das Essen lenkte ab.
Kjell hatte sie geheilt. Daran musste sie glauben, und um sich selbst davon zu überzeugen, dass er ihr eine Zukunft geschenkt hatte, begann sie, ihr Leben mit Plänen und Träumen zu füllen. In ein paar Tagen, wenn die Stürme nachließen, würde er zurückkehren. Dessen war sie sich sicher.
Alexanders neue Kamera wartete im Technikraum auf ihren Einsatz, die Pläne für die nächsten Tauchgänge waren erstellt. Und überall erschien darin ihr Name.
Wenn Fae nicht schrieb, starrte sie gedankenverloren aus dem Fenster und dachte an das, was sie erlebt hatte. Diese magischen, unfassbaren Momente, die mit jedem verstreichenden Tag unwirklicher wurden.
Existierte Kjell wirklich, oder verschwand er langsam im Nebel ihrer Fantasie? Wenn noch mehr Zeit verging, würde sie irgendwann glauben, es hätte ihn nie gegeben.
Eine weitere Woche verging, ohne dass er zurückkehrte. Die Stürme legten sich, aber an ihrer Stelle legte sich eine graue Decke über das Land und das Meer, schien alles Leben in Stillstand zu versetzen und erstickte Faes Zuversicht. Die Möwenschreie klangen hoffnungslos, dichter Nebel umgab das Haus und gab ihr das Gefühl, nichts dort draußen sei Wirklichkeit.
Eines Abends aß Fae eine scharfe Gulaschsuppe und nahm nur einen Hauch von Geschmack wahr. Am Morgen darauf litt sie unter leichten, aber hartnäckigen Kopfschmerzen, die Alexander und Henry lapidar als Dauerkater bezeichneten und es auf die feuchte, kalte Witterung schoben. Nicht, weil sie wirklich daran glaubten, sondern um über ihre eigene Angst hinwegzutäuschen.
Als Fae am zweiten Abend einen gut gewürzten Rollbraten mit Gemüse aß, ohne auch nur die geringste Spur von Geschmack wahrzunehmen, wusste sie, dass es keine Wetterfühligkeit gewesen war.
Der Tumor wuchs erneut. Schneller als je zuvor.
Einen Tag darauf versagte ihr Geruchssinn, nur wenige Stunden später verlor sie jedes Gefühl in den Fingerspitzen und schwindelte, sobald sie versuchte, aufzustehen.
Es tat diesmal nicht weh, abgesehen von den leichten Kopfschmerzen. Stattdessen fühlte es sich an, als verlösche sie mit jedem Atemzug ein wenig mehr. Still und leise. Ohne das Geringste dagegen tun zu können.
Ihr Bruder und seine Freunde wurden hilflose Zeugen eines zeitrafferartigen Verfalls.
„Elender Betrüger“, fluchte Alexander, während Fae auf dem Sofa lag und zu schlafen versuchte. „Ich sagte doch, dass er uns an der Nase herumführt. Es geht ihr schlechter als je zuvor. Ich wette, er ist daran schuld.“
„Nein!“ Fae stemmte sich hoch und starrte ihren Bruder aufgebracht an. „So war es nicht.“
„Ach nein?“ Alexander war nicht mehr wiederzuerkennen. Wirr und zerzaust hingen die Dreadlocks in sein ausgezehrtes Gesicht. In seinen Augen erkannte sie die völlige Abwesenheit von Hoffnung, was schlimmer schmerzte als ein Schlag in den Magen. Seine sonst fröhlichen, farbenfrohen Ethnohemden waren einem schwarzen Rollkragenpullover gewichen. „Woher willst du das wissen? Du kennst ihn doch gar nicht. Glaubst du wirklich, dass das zwischen euch etwas Ernstes war? Komm schon, Fae. Du bist auf sein hübsches Gesicht hereingefallen, und er hat sich an dir gütlich getan. Sieh es ein! Er hat dir nichts gegeben. Er hat dir etwas genommen und uns alle nach Strich und Faden belogen.“
„Nein!“ Fae rappelte sich vom Sofa auf, streckte schwankend die Arme aus und schrie auf vor Wut, als ihre Beine kraftlos zusammenknickten. Ukulele und Alexander wollten ihr aufhelfen, aber sie hielt beide mit einer abwehrenden Geste auf Abstand. „Solange er bei mir war, ging es mir gut. Ich weiß, was ich gefühlt habe. Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln. Und hör auf, aus Kjell ein Monster zu machen.“
„Was ist er?“, schnaubte ihr Bruder. „Eine Sirene? Eine männliche Meerjungfrau? Beide
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