Die Seele des Ozeans
Spezies sind nicht für ihre blütenreinen Absichten bekannt. Du liest doch so gerne, Fae. Was tun Sirenen? Wofür nutzen Meerjungfrauen ihre schönen Stimmen? Hast du schon mal darüber nachgedacht? Natürlich hast du. Ich habe dein Gesicht gesehen, als du in diesem Buch mit den Meerjungfrauenbildern herumgeblättert hast.“
Fae schüttelte nur den Kopf. „Ich glaube an Kjell. Ich liebe ihn und ich vertraue ihm.“
„Aus dir sprechen die Hormone. Sie vernebeln deinen Verstand.“
„Du musst es ja wissen.“ Mühsam stemmte sie sich hoch, schaffte es diesmal, stehen zu bleiben, und tat einen vorsichtigen Schritt auf die Tür zu. „Wisst ihr, was ich glaube? Ich bin nur so lange gesund, wie er bei mir ist. Es ist seine Energie. Sein Licht. Ihr habt es doch auch gefühlt.“
„Ja.“ Ukulele nickte. „Das stimmt.“
Fae warf dem Hawaiianer ein dankbares Lächeln zu. Wenigstens er hielt zu ihr und verurteilte Kjell nicht blindlings. „An dem Abend, als er weggelaufen ist, habe ich es sofort gespürt. Mir fehlte etwas. Ich fühlte mich schwach und müde. Er hat euch doch von der Seele erzählt. Von dem Licht, das ihn verwandelt hat. Nun, diese Energie ist reine Lebenskraft. Er strahlt sie aus, er gibt sie an unsere Körper und Seelen ab. In Kjells Nähe habe ich mich so gut gefühlt wie nie zuvor in meinem Leben. Nicht einmal, als ich noch gesund war.“
„Das kann ich bestätigen“, kam es von Henry, der zerzaust wie immer im Sessel hockte und sich an einer Kaffeetasse festhielt. „Mir ging es genauso. Seit Kjell verschwunden ist, ist mein Energiepegel merklich gesunken.“
„Ich habe euch nie davon erzählt“, kam es von Ukulele, „aber seit Monaten plagen mich starke Schulterschmerzen. Ich müsste operiert werden, aber das kam für mich nicht in Frage. Ich weiß, was ihr sagen wollt. Aber neben dieser Zeitsache kommt erschwerend hinzu, dass ich Panik vor Krankenhäusern habe. Wisst ihr, wie oft sie bei meinen Armen zustechen müssen, bevor sie ihre verdammten Nadeln platzieren können? Aber als Kjell zu uns kam, hörten die Schmerzen auf. Sie verschwanden einfach. Ich brauchte keine Pillen mehr. Erst wieder, als er verschwand.“
Alexanders Blick huschte zwischen Ukulele und ihr hin und her. „Die Schmerzen sind wieder da? So wie Faes Tumor zurückgekommen ist?“
Ukulele nickte.
„Verdammt.“
„Er muss zurückkommen“, befand der Hawaiianer. „So einfach ist das. Ich kann Pillen nehmen, aber Fae stirbt, wenn Kjell noch länger wegbleibt.“
Alexander war mit zwei Schritten bei ihr und packte sie bei den Schultern. „Wohin ist er geschwommen? Er muss doch irgendwas gesagt haben? Denk nach, Fae!“
„Ich weiß nur, dass er in Richtung Norden wollte.“
„Norden … Norden.“ Alexander raufte seine Dreadlocks, dass die Holzperlen nur so klapperten. „Norden nützt mir nichts. Kannst du ihn nicht rufen? Ihm irgendwie vermitteln, dass du ihn dringend brauchst.“
„Das versuche ich schon die ganze Zeit.“
„Dann gibt es nur eine Erklärung, so leid es mir tut. Er hat nur mit uns gespielt. Ein paar Tage dienten wir ihm als Zeitvertreib, und jetzt hat er genug von uns. Es ist ihm völlig egal, ob Fae stirbt oder Ukulele wieder Schmerzen hat.“
„Nein!“ Erneut spürte sie, wie die Wut ihr zu Kopf stieg. Es verlieh ihr Kraft. Eine hässliche Form von Kraft, aber sie genügte. „Das ist nicht wahr. Er würde mich nie im Stich lassen.“
„Ach ja? Warum ist er dann nicht hier, um dich zu heilen?“
Sie schwankte, glaubte das Bewusstsein zu verlieren, doch plötzlich begann sie wie von selbst zu rennen. Mit einer Kraft, die sie sich in ihrem Zustand niemals zugetraut hatte, riss sie die Tür auf, warf sie wieder ins Schloss und stolperte durch den Nebel. Wohin, war egal.
Nur weg. Einfach weg.
Hinein ins Grau. Irgendwohin.
Weit kam sie nicht. An einem Felsen sackte sie auf die Knie, kippte gegen den kalten Stein und weinte. Der Wind ließ die Tränen auf ihren Wangen gefrieren. Fae spürte es nicht, aber sie sah die zarte Kruste auf ihren Fingerspitzen, als sie ihre Haut berührt hatte. Würde jetzt einfach alles vorbei sein? War alle Hoffnung vergebens gewesen? Damals hatte sie schon losgelassen, es wäre vielleicht sogar einfach gewesen. Aber zu sterben, nachdem man geglaubt hatte, ein neues Leben geschenkt bekommen zu haben, war noch schrecklicher als ihr altes Schicksal.
Was, wenn Alexander recht hatte?
Fae drückte ihre Stirn gegen den schroffen Fels, so fest, dass es
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