Die Seele des Ozeans
dem Schiff in atemlosem Schrecken. Selbst Breacs Körper gehorchte ihm nicht, sondern stand wie gelähmt an der Reling, die Finger um das frostüberzogene Eisen gekrallt, die Beine weich und zittrig.
Das Wesen lag ausgestreckt auf einer Eisscholle, die zehnmal länger war als das Schiff, doch unter der Größe und Last des Tieres schien sie kaum mehr zu sein als eine dünne Nussschale, die jederzeit zerbrechen konnte. Das gepanzerte Haupt des Seelenfressers war langgestreckt und von schrecklicher Eleganz, wie das eines Drachens. Den mächtigen Kiefern fehlten die Zähne, aber solche hatte der Seelenfresser nicht nötig. Weit hingen ihm die Tentakel aus dem Maul, die sie ersetzten. Jeder davon war so dick, dass ein Mann ihn nur knapp mit beiden Armen umfassen konnte. Scharf und tödlich blitzten unzählige Hornspitzen im Mondlicht, die diese schleimigen Auswüchse in zwei Reihen überzogen. Gruben sie sich in ein Opfer, ließen sie nicht wieder los, ehe es im Schlund des Untiers gelandet war.
In all der Zeit, während der sie gemeinsam gejagt hatten, war ihm dieser Anblick nur wenige Male zuteil geworden. Auf eine schreckliche, grauenvolle Art war dieses Monster schön. Fast wirkte es wie eine gigantische Seeschlange, sah man einmal von der krokodilartigen Panzerung ab, die seinen Leib bedeckte und sich im Nacken zu einer knöchernen Wulst verdickte, die an einen stachelbesetzten Sattel erinnerte.
Breac bestaunte voller Zuneigung den geschmeidigen Drachenleib und die weißsilbernen Panzerschuppen, von denen jede so hart war, dass selbst Harpunen und Schiffsschrauben daran zerbarsten. Wie blasse, ovale Teiche schillerten die Augen des Wesens, und auf der zerfransten Fluke, die das Ende des Körpers bildete, glänzte das Mondlicht, als wäre sie über und über mit Kristallen besetzt.
Allein den Bauch des Seelenfressers musste jeder als hässlich bezeichnen. Unter dem Panzer ragten die weißen Rippen des Tieres hervor und glichen scharfen, gebogenen Lanzen, die untereinander mit einer verzweigten Struktur aus Knochen verbunden waren. In diesem schützenden Käfig lag ein durchscheinender Hautsack, in dem all jene unglückseligen Geschöpfe verdaut wurden, die dem Monster zwischen die Tentakel gerieten. Manchmal sah Breac ganze Wale darin liegen. Einige zerfetzt, andere im Ganzen. Und manche sogar noch lebendig.
Was Breac in seinem ganzen Leben nur zweimal in ganzer Pracht erblickt hatte, war das bleiche Segel, das wie bei einem Fächerfisch auf dem Rücken des Ungeheuers wuchs. Meistens lag es eng am Körper an und war praktisch unsichtbar, aber jetzt stellte der Seelenfresser es langsam auf, bis es bizarr und leuchtend in den Nachthimmel hinaufragte. Das Segel erinnerte an das Astgeflecht eines silbernen Baumes, und zwischen den Knochenstreben spannte sich eine Haut, die so zart war, dass sie sich nur durch ein bläuliches Schimmern verriet.
Vielleicht fing das Monster darin das Mondlicht auf und stärkte sich daran. Breac glaubte, eine Art Aderngeflecht zu erkennen, das sich über diese Häute zog. Ähnlich wie bei einer Fledermaus. Doch floss kein Blut hindurch, sondern bläuliches Licht.
„Allmächtiger im Himmel.“ Einer der Männer schaffte es, sich zu bekreuzigen. Die anderen standen bewegungslos da, als verwandele sie der Anblick der gewaltigen Kreatur, die langsam wie ein Albtraumgebilde an ihnen vorbeizog, in kalten Stein.
„Wunderschön, nicht wahr?“ Breac empfand eine verdrehte Art von Mitleid. Er wusste, dass das Monster Schmerzen litt. Sein Leib hob und senkte sich unter mühsamen Atemzügen, doch eine Wunde war nirgendwo zu sehen. Was hatte der Wal ihm angetan? War es seine makellose Reinheit, vor der das Ungeheuer zurückschreckte? Nein, er hatte heute Nachmittag gesehen, wie die Tentakel den Narwal verwundet hatten. Also warum lebte er noch?
Bring ihn mir endlich! Er ist schwach. Du hast ihn verwundet.
Treib ihn vor meine Harpune, sonst sterben wir beide.
Breac stutzte über seine eigenen Worte. Was hatte er gerade gesagt?
Sonst sterben wir beide?
Natürlich, das Monster wurde schwächer und kränker, mit jedem verstreichenden Tag ein wenig mehr. So wie die Kraft des Narwalfleisches in seinen Adern versiegte, schwand auch das Leben des Seelenfressers. Sie trieben gemeinsam auf einen Abgrund zu und wurden langsam, aber sicher zu schwach für die Jagd.
„Bring ihn mir!“, rief Breac dem Monster zu. „Morgen früh begrüßen wir den Tag mit frischem Fleisch und warmem Blut. So wahr
Weitere Kostenlose Bücher