Die Seele des Ozeans
mir Gott helfe!“
Das Ungeheuer erwachte zum Leben. Es klappte sein Rückensegel ein, sog die Tentakel in sein Maul und stieß ein grausiges Stöhnen aus, das die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Der Ozean schlug Wellen, das Schiff tanzte auf und ab. Ein schwerfälliges Schlängeln, ein Ruck – und der gewaltige Körper plumpste wie ein lebendiges Gebirge in das Wasser. Meterhohe Brecher türmten sich auf, warfen sich gegen das Schiff und ließen die Schollen schwanken. Das Kreischen und Klagen des zerberstenden Eises hallte durch die arktische Nacht, ein würdiger Ersatz für den verklungenen Schrei des Monsters.
Die Männer jammerten und beteten.
So viel Stoff für eure Legenden. Öl für das Feuer eures Aberglaubens. Macht euch nichts daraus, ihr könnt es sowieso niemandem mehr erzählen.
„Vorwärts!“, herrschte er die verängstigte Mannschaft an. „Ihm hinterher! Lasst den Wal noch einmal entkommen, und ich verfüttere euch an seiner statt an meinen Freund.“
Selten hatte er einen solchen Eifer bei seinen Männern erlebt. Todesangst war immer noch die beste Motivation. Bald pflügte das Schiff mit voller Kraft durch das Meer, zog einen hellen Gischtschweif hinter sich her und kam dem verwundeten Wal zusehends näher. Breac glaubte, in all der Angst zu ertrinken, die ihm entgegenströmte. Sie flutete von überall her in seine weit geöffnete Wahrnehmung, und er konnte nichts tun, um sie auszublenden. Mochten seine Augen immer blinder werden, seine Ohren immer tauber und sein Körper immer steifer – Gefühle spürte er scharf wie eh und je.
All das würde leichter zu ertragen sein, wenn er seine Jugend zurückgewonnen hatte. Keine Schmerzen mehr, welch ein wundervoller Gedanke. Oh, wie er das Verwelken aller Dinge verabscheute. Immer und für alle Zeit.
Fahrt schneller!
Ich habe keine Zeit mehr.
Die Sonne ging bereits auf, als sie den Narwal endlich erblickten. Müde kämpfte sich das Tier voran, sein schneeweißer Körper spiegelte gleißend das Licht des neuen Tages wider.
Wunderschön.
Breac spürte das heiße Schlagen seines Herzens.
Bring ihn zu mir, mo charaid. Lass ihn nicht wieder entkommen.
Erneut füllte eine Welle aus fremder Angst seine Seele. Die Qual ließ Breacs Knie zittern. Nein, er durfte nicht nachgeben. Sein monströser Freund war so gierig, dass ihm langsam die Kontrolle entglitt. Schnell holte der Seelenfresser den Wal ein, schnitt ihm den Weg ab und trieb ihn zurück. Hin zum Bug des Schiffes.
Perfekt! Genau so! Halt ihn!
Breac rannte zur Harpunenvorrichtung. War der Wal erst einmal in Schussweite, würde der Rest zum Kinderspiel werden. Seine Finger zitterten so sehr, dass er kaum zupacken konnte.
Konzentrier dich! Das ist deine letzte Chance.
Er zwang sich, tief und ruhig zu atmen. Normalerweise wäre dies der Moment gewesen, in dem alles in die Ferne rückt, ausgeblendet von einem Nebel, in dem nur eines scharf hervortrat: Die Beute, die es zu töten galt. Doch diesmal war es anders. In seinem Kopf herrschte das pure Chaos. Er durfte nicht scheitern. Alles hing davon ab. Wenn er erneut versagte, wartete das schlimmste aller Schicksale auf ihn.
Weil du nichts anderes verdienst, höhnte eine boshafte Stimme in ihm. Wer Schmerz sät, wird Schmerz ernten.
Der Narwal schwebte keine Schiffslänge vor ihm durch das tintenblaue Wasser, bleich und schwerelos wie ein Gespenst. Sonnenreflexe tanzten auf den Wellen, die der zuckende Leib des Monsters aufwühlte.
Ja, gut so! Lass ihn nicht entkommen.
Noch etwas näher … gleich … gleich!
Der Wal versuchte nicht einmal mehr, zu entkommen. Es schien, als hätte er aufgegeben. Scharfe Tentakelzähne rissen klaffende Wunden in die Speckschicht des Tieres, doch selbst jetzt wehrte es sich nicht. Nein, es schien sich gar der Harpune zuzuwenden und bot ihm ein perfektes, nicht zu verfehlendes Ziel.
Schmerz und Angst.
Sengend heiß. Rote Blutwolken im Wasser.
Ein rasendes Stechen in Breacs Seite.
Der Moment war gekommen.
Jetzt! Jetzt! Mach keinen Fehler!
Ein Knall, ein Ruck. Breac stolperte zurück, wäre fast gestürzt.
Ächzend zog er sich an der Schussvorrichtung wieder hoch, starrte in das Wasser hinunter und sah, dass er getroffen hatte. Genau in den Kopf.
Endlich! Endlich! Oh bei allen Göttern, es ist vorbei!
Der Narwal starb, noch ehe sein Körper zur Seite sackte, das Gehirn zerfetzt von der Explosion des Harpunenkopfes. Wie ein anklagender Fingerzeig neigte sich das prächtige Horn gen Himmel.
So
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