Die Seele des Ozeans
tun. Sie hörte ihre Zähne klappern und das wimmernde Schluchzen, das ihr unkontrollierbar entfloh. Oh, es war erbärmlich.
Ukulele schien eine Ewigkeit zu laufen. Vielleicht war es auch nur das Zeitgefühl, das durcheinandergeriet, so wie alles seine Formen verlor und in ein unwirkliches Chaos abdriftete. Fae begriff nur verzögert, dass der Hawaiianer sie abgesetzt hatte. Er stützte sie, murmelte irgendetwas in ihr Ohr, und dann sah sie Kjell, der reglos und tot vor ihr im Sand lag.
Alles, was ihr bei seinem Anblick einfiel, waren vier endgültige Worte: Er kommt nicht wieder.
Von der strahlenden Helligkeit, die ihn sonst umgeben hatte, war nichts mehr übrig. Er sah aus wie eine gewöhnliche, menschliche Leiche.
Nein, so schnell gebe ich nicht auf!
Sie löste sich aus Ukuleles Armen und kniete sich neben Kjell. Ihre Hände tasteten zitternd über seinen eiskalten Körper. Kein Leben war mehr darin. Sie spürte nichts. Absolutes Nichts. Ebenso gut hätte sie einen der Grabsteine berühren können.
Sie legte sich neben ihn, bettete den Kopf auf seiner Brust und legte einen Arm um seine Schulter. Dann schloss sie die Augen und wartete auf das, was geschehen würde. Die Stimmen der Männer waren kaum mehr zu hören, so fern waren sie. Ebenso weit weg wie die Berührungen ihrer Hände, die ihr tauber Körper kaum mehr fühlte.
„Lass uns gehen, Fae.“
„Nein!“
„Wir können nichts mehr tun.“
„Nein!“
„Gib ihr ein bisschen Zeit.“ Ukuleles grausam sanfte Stimme. „Komm schon, lass die beiden allein.“
„Aber sie wird erfrieren. Es ist eiskalt.“
„Lass deine Schwester in Ruhe, Alex.“
Fae wehrte sich nicht gegen die Dunkelheit. Frieden sank auf sie herab. Er war warm und erlösend. Alles war gut.
Lange schwebte sie im Nichts dahin. Wind strich durch ihr Haar, die Wellen rauschten. Unter sich fühlte sie den feuchten Sand. Ein Prickeln floss durch ihre Finger, breitete sich aus, tastete sich die Arme empor und lief in den ganzen Körper aus. Es begann weh zu tun. So, als wären sämtliche Gliedmaßen eingeschlafen. Oder als wäre sie fast erfroren und würde nun unter Schmerzen auftauen.
Die glatte, kalte Haut unter ihren Fingern verwandelte sich in warmes Fell. Etwas schnurrte dicht an ihrem Ohr.
Halluzinationen, Visionen, vielleicht auch nur Erinnerungen.
Schlaf einfach weiter.
Fae driftete wieder in warme Schwärze ab, bis sie eine vertraute Stimme hörte. Henry? Träumte sie sich ihn herbei? Aber wieso?
„.ßiew se ttog ssad enho lemmih mov gnilreps niek tlläf sE.“
Moment. Das kenne ich. Er liest Sätze gerne rückwärts. Du sagst ihm einen Satz, und er weiß sofort, wie man ihn rückwärts sagen muss.
Irgendwie hatte sie sich das Sterben anders vorgestellt. Wo war Kjell? War er bei ihr? Wartete er auf sie? Fae öffnete blinzelnd die Augen. Ein weißes Gespenst mit riesigen gelben Augen schwebte vor ihr und glotzte sie an. Zuerst glaubte sie, in einer surrealen Zwischenwelt zu sein, doch dann begriff sie, dass es ihr Kater war.
Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Mit Rembrandt auf ihrer Brust. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
„Tiez red egarf enie run llafrov red raw eglofuz nethcireb ned.“
Erstaunlicherweise gelang es ihr, sich aufzurichten. Sie fühlte sich zerschlagen und müde, aber nicht mehr als nach einer durchwachten Nacht. Ihr tat nichts weh, der Schwindel war kaum der Rede wert. Selbst ihre Hände zitterten nicht mehr.
Etwas war geschehen. Draußen am Strand zwischen den Grabsteinen. Sie hatte neben Kjell gelegen und sich dem Tod ausgeliefert.
Kjell!
Wo war er? Warum war sie hier?
Offenbar hatte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, denn Henry blickte auf. Er legte die Zeitung weg, räusperte sich und wandte den Kopf. Zwei Sekunden später stand Alexander in der Küchentür. Sein schwarzes Hemd und die Jeans waren voller weißer Flecken. Mit ihm wehte ein Duft nach Kokoskuchen in das Wohnzimmer. Hatte er etwa gerade gebacken?
„Was passiert ist?“, sagte ihr Bruder. „Ich sage dir, was passiert ist. Dein fischschwänziger Freund ist wiederauferstanden. Aber anstatt dir zu helfen, verschwand er einfach. Keinen Blick hat er dir gegönnt. Er ist auf und davon, ohne ein Wort.“
„Was?“ Fae starrte ihn mit offenem Mund an. Kjell war tot gewesen, endgültig tot. Sie hatte es gefühlt, und ihr eigenes Leben war genauso verwirkt gewesen wie seines. „Aber das kann unmöglich sein.“
„Ja, da sagst du was. Wie hat er es geschafft, ins
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