Die Seele des Ozeans
heran. Verstaubte, uralte Bilder tauchten aus der Tiefe seines Geistes auf und wollten ihn in die Knie zwingen, aber er hielt ihnen stand.
Sein Boot, in dem Alena lag. Seine wunderschöne Alena, zerschunden und blutüberströmt. Sie war längst tot, aber er gab die Hoffnung nicht auf. Er ruderte, ruderte und ruderte, bis er schrie vor Schmerz und fast die Sinne verlor. Der Tod lockte den Heiligen Wal an, so war es auch diesmal. Niemandem sonst wäre es in den Sinn gekommen, diesem seit Urzeiten angebeteten Tier schaden zu wollen, aber niemand hatte je so geliebt wie er. Der Wal kam dicht an das Boot heran, und Breac stieß ihm entschlossen die Lanze in das Fleisch. Tosendes Meer, Blut im Wasser, seine aufgerissenen Hände, auf denen die Gischt brannte. Wilde Schreie. Unzählige Flüche. Immer weiter zog ihn der weiße Narwal durch die See, immer weiter weg vom Land. Aber er gab nicht auf. Alenas Seele war immer noch bei ihm.
Er würde sie zurückholen. Oh ja.
Und dann war es so weit. Halbtot trieb der Narwal im Wasser, seinem Messer hilflos ausgeliefert.
Oh ihr Götter, ich flehe euch an! Lasst die Legenden wahr sein! Lasst sein Blut den Tod besiegen!
Er stopfte Alena das triefende Fleisch in den Mund. Hoffend, betend, verzweifelnd. Noch ein Stück ... noch ein Stück. Doch nichts geschah. Sie war fort, verschwunden, vernichtet. Niemals würde sie zurückkehren. Das, was die Feinde ihr angetan hatten, war zu schrecklich gewesen.
Vielleicht waren die Geschichten über die Macht des Wales aber auch nur Lügen.
„Nein!“, schrie er außer sich vor Zorn. „Warum? Warum tut ihr mir das an? Habe ich euch nicht genug gedankt? Habe ich nicht genug Opfer gebracht? Wofür bestraft ihr mich?“
Aber die Götter schwiegen.
Das Herz, ja, das Herz. Er musste es herausschneiden. Vielleicht heilte nur das Herz den Tod. Aber dann kamen die Orcas. Sie warfen sich auf das Boot und schlugen ihn mit ihren Fluken bewusstlos, kaum dass es ihm gelungen war, einen Brocken blutigen Fleisches in seinen Mund zu stopfen. Alena war fort, versunken in der Tiefe. So wie der Narwal.
Vorbei … vorbei …
Breac wischt eine gefrorene Träne von seiner Wange. Unten in einer der Kojen sangen zwei Männer lallend vor sich hin. Die gefrorenen Taue knarzten. Er roch Tabakrauch, geräucherten Fisch und den Gestank des Wales. Tran schmolz in großen Kesseln, das Fleisch lagerte säuberlich verstaut im Bauch des Schiffes.
Noch ein Tier, dann würde die Witterung selbst seine todesmutige Mannschaft in den Hafen zwingen.
Es sei denn, Breacs ganz persönliche Jagd war erfolgreich.
Dann würde dieses Schiff bald auf dem Grund des Meeres liegen. Zerfetzt vom Seelenfresser.
„Komm“, flüsterte Breac in die erwartungsstille Nacht hinaus. „Komm zu mir. Komm. Ich warte.“
Der Seelenfresser kam, doch ohne Beute. Weder hatte er ihr Opfer aufgespürt, noch etwas gefunden, das seinen Hunger hatte stillen können. Gierig peitschten seine Tentakel das Wasser und verlangten nach Futter.
„Such dir Wale“, brummte Breac. „Ich kann nicht meine ganze Mannschaft an dich verfüttern.“
Ein leises Grollen ließ das Wasser tanzen.
„Gut, mein Freund. Gut. Einen bekommst du noch, aber das nächste Mal friss dich an Walen satt. Die füllen deinen Magen besser als so ein kleiner, zäher Mensch.“
Breac ging in seine Koje, nahm ein silbernes Kästchen aus dem Schrank und öffnete es. Darin lagen ein Fläschchen und ein goldener Ring. Behutsam nahm er das Schmuckstück heraus, klappte den Dorn
hoch, der sich im Siegel des Rings verbarg, und tauchte ihn in das Gift, das er in dem Fläschchen aufbewahrte.
Die Glücksgöttin war ihm und dem Seelenfresser offenbar gewogen, denn als er wieder das Deck betrat, stand ein einzelner Seemann an der Reling und genoss seine Zigarette.
Breac trat zu ihm und machte kurzen Prozess. Ein überraschtes Keuchen erklang, als er mit festem Griff den Nacken des Seemanns umfasste und ihm den Dorn ins Fleisch trieb.
„Was … machst …“
Zwei gestammelte Wörter, schon raste das Gift durch das Blut des Mannes und tat seine Wirkung. Zuerst lähmte es die Stimmbänder, dann die Muskeln und den Atem. Hilflos sackte der Seemann in Breacs Arme. Entsetzen weitete seine Augen, als sich im Wasser der Schlund des Seelenfressers öffnete, ein riesiger Abgrund aus sich windenden Tentakeln, triefendem Schleim und zuckenden Muskelsträngen.
„Hast du jemals die Whalers Bay gesehen?“, raunte Breac zum Abschied. „Die
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