Die Seele des Ozeans
Tranöfen und die Baracken? Überall liegen bleiche Knochen herum. Die Skelette der Wale verrotten im Eiswind. Irgendwer hat ein paar der meterlangen Rippen zu Bögen aufgestellt. Es stinkt zum Himmel, alles ist kahl und leer und tot. Das Meer ist nichts weiter als eine tote Brühe. Es gibt keinen hässlicheren Ort. Keinen, der besseres Zeugnis dafür ablegt, dass diese Welt ein elender Ort ist. In der Whalers Bay habe ich jahrelang getötet, ich stand bis zur Hüfte in Blut und Eingeweiden, verkochte Speck zu stinkendem Tran und bewies mir jeden Tag aufs Neue, dass das Leben nur die Vorstufe zum Tod ist. Alles stirbt, mein Freund. Alles fault, alles ist nur stinkendes Fleisch. Sieh nur, ist mein Freund nicht wunderschön?“ Er packte den schlotternden Seemann und hievte ihn über die Reling. Sabberfäden tropften aus dem panisch aufgerissen Mund des Unglücklichen. „Die Feuerland-Indianer nannten ihn den Seelenfresser. Er ist mein treuester Freund, und ich weiß bis heute nicht, warum das so ist.“
Eine Erinnerung überwältigte Breac, als er den Seemann losließ und ihn seinem Schicksal überantwortete.
Er stand im dunklen Sand der Whalers Bay und starrte auf ein blutrotes, nach Verwesung stinkendes Meer. Die abgespeckten Kadaver zahlloser Wale trieben auf den Wellen. Zu viel Fleisch für die Aasfresser. Gerade, als er sich die Pistole an die Schläfe setzte, um wenigstens für ein paar Stunden tot zu sein, brach der riesige Körper des Ungeheuers durch die Oberfläche des verwesenden Meeres. Glitschige Tentakel umwanden zutraulich seine Beine, ein teichgroßes Auge glotzte ihn an. Und am Ende starb nicht er, sondern alle, die an seiner Seite den Tod gesät hatten.
Breac sah zu, wie sich der Schlund des Seelenfressers über dem sterbenden Seemann schloss. Für solch ein großes Wesen war es ein winziger Happen, aber besser als nichts.
Mit einer Lautlosigkeit, die den gigantischen Körper Lügen strafte, brach das Monster zu einem erneuten Streifzug auf. Breac blieb, wo er war, während die finstersten Stunden der Nacht an ihm vorüberglitten. Niemandem fiel auf, dass einer der Männer fehlte. Und wenn es morgen früh auffallen würde – nun ja, es geschah oft, dass Betrunkene von allen unbemerkt ins Wasser fielen und ertranken.
Das Schiff schwebte in einer Geisterwelt aus spiegelndem Eis und glattem, schwarzen Wasser. Aber Breac war geduldig. Im Laufe der Zeit hatte er gelernt zu warten, aber das bedeutete nicht, dass er seine Gedanken unter Kontrolle hatte.
Immer wieder kreisten sie, kreisten um Verwesung und Tod, um nie endendes Sterben und lebendige Leichname.
Jedes Mal, wenn er darüber nachsann, was aus ihm werden würde, zerquetschte die Angst seinen Magen und ließ sein Herz gefrieren. Eine Ewigkeit als vertrockneter Leichnam. Keine Hoffnung auf Erlösung. Endloses Dahinvegetieren.
„Finde ihn, mo buidheag!“ Seine Stimme klang in der arktischen Stille wie das Schneiden eines scharfen Messers. „Finde ihn, bei allen Göttern!“
Die höhnische Stille dauerte an. Breacs Angst wuchs zusammen mit dem Licht, das im Osten graute. Zuerst fahl und undeutlich, wurde es heller und stärker. Tagsüber plagte ihn das Leid heftiger als nachts. Die dunklen, stillen Stunden schenkten ihm einen Anflug von Ruhe, die Tage hingegen schienen kein Ende zu nehmen und zogen sich ewig dahin.
Suchen, finden, töten, altern.
Wenn es für ihn einfach vorbei wäre, so wie es für die Wale vorbei war, nachdem seine Harpune ihr Herz zerfetzt hatte, wäre er längst in den Tod gegangen. Er war alt und müde und sehnte sich nach seiner Frau, die im Jenseits auf ihn wartete.
Aber wenn er es nicht schaffte, das magische Blut zu trinken und das Fleisch der Unsterblichkeit zu essen, würde er als lebender Toter existieren müssen.
Bas mallaichte! Komm endlich!
Ich flehe dich an!
Und plötzlich, im ersten Strahl der aufgehenden Sonne, sah er ihn. Zuerst durchstach sein prächtiges Horn den Spiegel des Wassers. Dann tauchte sein weißer Körper auf, leuchtete im Gleißen des Morgens, drehte sich anmutig und glitt wieder unter die Oberfläche. Sein Erscheinen währte nicht länger als zwei Atemzüge. Doch es war dieser Augenblick, auf den Breac sein Leben lang gewartet hatte.
Die Szene, von der er Tausende Male geträumt hatte. Seine einzige und letzte Hoffnung.
Der weiße Narwal. Das mächtigste Geschöpf auf Erden.
Als der glatte Meeresspiegel zwischen den Eisschollen zerstob und ein gigantischer Körper in die Höhe
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