Die Seele des Ozeans
Geschenk der Unsterblichkeit.
Kapitel V
Das Wrack am Meeresgrund
~ Gegenwart, August 2052 ~
K jell las den Titel und das Gedicht des fünften Kapitels, dann legte er das Buch weg. Okay, erst mal durchatmen. Manchmal funktionierte sein Kopfkino ein bisschen zu gut. Er sah das Monster unter den Wellen vor sich, die wimmelnden Tentakel und den aufgerissenen Schlund, der den Seemann verschlang. Er glaubte gar, das zu spüren, was der Held dieses Buches gespürt hatte. Die Gier eines mächtigen Geschöpfes, die in seinen Eingeweiden rumorte. Wie ein ferner, hungriger, flüsternder Ruf: Ich finde dich. Ich jage dich. Ich trinke dein Blut und fresse dein Fleisch.
Kjell schlug die Decke zurück und streckte seine Beine. Inzwischen graute der Morgen, der Himmel war blau wie Lapislazuli. Die beste Zeit, um schwimmen zu gehen. Eingedenk seiner Lektüre kam ihm in den Sinn, das verfallene Haus oben auf den Klippen zu besuchen. In Faes Fantasiewelt war es das einstige Heim des unglückseligen Angus und seiner Frau. Aber für einen solch ausgedehnten Spaziergang würde nach dem Frühstück noch genügend Zeit bleiben.
Er zog den löchrigen Mantel über, schlich nach unten und verließ das Haus. Fae schien noch zu schlafen. Senile Bettflucht war für seine Mutter nie ein Thema gewesen. Sie hatte kein Problem damit, zwölf Stunden am Stück tief und fest zu schlummern, während ihm drei Stunden Schlaf völlig genügten und er selbst dann noch tadellos funktionierte, wenn er mehrere Tage am Stück gar nicht schlief.
„Du bist ein Glücksfall“, hing ihm Daniels Stimme in den Ohren. „In jeder Hinsicht.“
Als Kjell seinen Morgenmantel in den Sand fallen ließ und die Zehen in die kalte Brandung tauchte, stellte er sich vor, der Held der Geschichte zu sein. Er visualisierte ein Kribbeln in seinen Beinen, bildete sich ein zu spüren, wie Fleisch und Haut zusammenwuchsen, wie zwei Gliedmaßen zu einem kräftigen, silbernen Fischleib wurden – dann warf er sich nach vorne und tauchte ab.
Mit zwei Beinen. Mit Lungen, die nach Luft schrien, als er im eisigen Wasser mehrere Schwimmzüge getan hatte. Kjell drehte sich, breitete die Arme aus und öffnete seine Augen. Er sah vollkommen klar. Ohne Verzerrung und ohne Brennen. Seit er denken konnte, waren seine Augen bestens daran angepasst, unter Wasser zu sehen. Emmas Theorie nach waren seine Vorfahren Seezigeuner. Menschen, die ihr Leben auf dem Meer verbrachten und nur selten an Land kamen. So weit hergeholt war dieser Gedanke nicht mal. Fae war nachweislich mehrere Wochen zu Gast bei diesen Menschen gewesen, und sie hatte nie verraten, wer sein Vater war.
Vielleicht war er tatsächlich zur Hälfte ein Seenomade? Kein übler Gedanke. Gewisse Parallelen bestanden durchaus. Von Kindheit an passten sich die Körper dieser Menschen dem Leben auf und im Wasser an – genauso war es bei ihm gewesen. Sie hielten problemlos zehn Minuten die Luft an, tauchten in Tiefen hinab, die für andere Menschen tödlich waren, und sahen unter Wasser ebenso klar und scharf wie darüber – alles Eigenschaften, derer er sich selbst rühmen konnte.
„Was wäre, Emma, wenn ich dir erzähle, dass meine wahren Vorfahren Meerjungfrauen waren?“ Kjell grinste, presste seine Beine eng zusammen und vollführte wellenförmige Schwimmbewegungen. Über ihm glänzte die Oberfläche im ersten Sonnenlicht.
Ja, beinahe fühlte er sich wie der Kjell im Buch. Wild, eins mit dem Meer und frei.
Na kommt schon, ihr rudimentären Gene. Zeigt euch. Vollendet euer Werk. Zeigt mir, was ich wirklich bin.
Der Ozean bewegte sich sanft und langsam. Wie ein träger Herzschlag, oder wie die kaum merklichen Bewegungen einer Wiege, die den gesamten Planeten umschloss. Seine Lungen brannten und erinnerten ihn daran, dass er nur Fantasien nachhing. Er musste atmen. Jetzt. Sofort. Doch Kjell blieb reglos. Mit ausgebreiteten Armen schwebte er unter der Oberfläche und wartete. Worauf, wusste er nicht. Das Sonnenlicht auf den Wellen wurde seltsam dumpf. In seinen Ohren rauschte die Brandung.
Atme. Bewege dich. Tauche auf.
Das Spiel der Wellen hypnotisierte ihn. Fesselte ihn. Eine brutale Faust quetschte seinen Brustkorb zusammen. Von fern glaubte er, eine Melodie zu hören.
Eine Melodie? Nein, eher etwas Unhörbares. Etwas in seinem Kopf, in seinem Geist. Wie die Schwingung der Erde, die ein winziges Stück außerhalb der menschlichen Wahrnehmung existierte und allgegenwärtig war.
Der vergessene Klang unserer
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