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Die Seele des Ozeans

Die Seele des Ozeans

Titel: Die Seele des Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Okay ab, ließ einen Stinkefinger folgen und sank weiter hinab. Die Wasseroberfläche verschwand im nebligen Grün. Nur noch das Seil war zu sehen, das die Boje mit dem Wrack verband. Sonst nichts, nur türkisfarbene Stille. Er spürte, wie sein Geist allmählich zur Ruhe kam. Jedes Ausatmen entließ blubbernd die Atemluft ins Wasser, jedes Einatmen beantworteten die Atemregler fauchend mit trockener, kalter Luft. Hin und wieder ließ er über das Brustventil Luft in seinen Anzug, um die Isolationswirkung aufrecht zu erhalten. Die Welt dort oben war entschwunden. Hier war es tief und fremd. Nichts, das über der Oberfläche lag, zählte mehr. Kein Sterben, kein Schmerz, keine Angst. Selbst die Gedanken an seine Schwester waren hier unten erholsam fern.
    Alexander sank tiefer und tiefer. Genoss jeden Atemzug. Jede Bewegung. Bald würde das hier seine einzige Zuflucht sein. Wenn Fae ihn verließ, gab es nur noch einen Trost für ihn. Die Auszeiten unter Wasser. Das Tauchen. Vielleicht würde er einfach in der Tiefe verschwinden und nicht wieder zurückkehren.
    Lass das, entgegnete seine Vernunft. Denk nicht mal daran. Sie brauchen dich. Wie ein Gespenst aus ferner Vergangenheit tauchte das Wrack unter ihnen auf. Erst nur die Mastspitze, überwuchert wie ein toter Baum im Sumpf, dann mit jedem Meter, den sie weiter absanken, ein Stück mehr des zerstörten Schiffes. Aufbauten wurden sichtbar, deren geborstene Scheiben wie tote Augen starrten. Dutzende Menschen hatten darin ihren kalten Tod gefunden. Alexander verwehrte sich jeden Gedanken daran. Er klammerte aus, dass dieses Schiff vor mehr als achtzig Jahren von einem Jahrhundertsturm versenkt worden war. Wischte beiseite, dass Dutzende Familien vergeblich auf die Rückkehr ihrer Ehemänner, Väter und Brüder gewartet hatten. Überall dasselbe. Überall Tod und Vernichtung.
    Es kotzte ihn an.
    Er ließ das Seil los, folgte den Resten der Reling zum Heck und behielt Henry im Auge, der dicht neben ihm schwamm. Nebenbei fummelte er das Reel aus seiner Tasche, warf den Karabiner über ein noch stabil aussehendes Stück Geländer und schlug ihn gegen das dünne, weiße Seil. Eine Sedimentwolke nahm ihm fast augenblicklich die Sicht. Die dicken Handschuhe machten das Ganze nicht einfacher, doch als er kräftig an dem Seil zog, war alles fest.
    Gut, Zeit für den Aufbruch. Henry eilte zum zweiten Mal allen guten Vorsätzen zum Trotz voraus und schwebte bereits in der Luke. Alexander gab ihm das entsprechende Zeichen, sein Freund formte als Antwort mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, schaltete seine Taschenlampe ein und malte mit dem hellen Lichtkegel einen zweiten auf das Deck. Alexander ließ seine Lampe aufflammen und wiederholte das aus Licht geformte Okay.
    Also gut. Dann mal los.
    Er folgte seinem Freund in das Innere des Schiffs, arbeitete sich vorsichtig voran und zog die Leine hinter sich her. Luke für Luke, Gang für Gang. Kabine für Kabine. Nichts als Schlamm, Schlick, Krebse und ein paar Fische. Keine besonders spannenden Aufnahmen, aber die morbide Aura dieses Schauplatzes würde auch ohne bemerkenswerte Geschöpfe genügend Faszination in den Menschen aufbauen. Es gab nicht viel, das gespenstischer war, als durch ein Wrack zu gleiten. Schwerelos, beinahe selbst wie ein Geist, umgeben von verrosteter Vergänglichkeit. Bullaugen schwebten vorbei und starrten ihn an, überall auf dem Boden zeichneten sich unter dem Leichentuch aus Schlick die stummen Zeugen des vergangenen Dramas ab. Bis auf faulige Reste zerfallene Koffer, aus Schränken gestürzte Schubladen, Stiefel, alte Glasflaschen. Sogar ein Wecker. Er wischte behutsam das Sediment vom noch vorhandenen Uhrenglas. Die Zeiger waren Punkt 21:45 Uhr stehengeblieben.
    Mit vorsichtigen Bewegungen pirschte sich Henry vor ihm einen weiteren Gang entlang. Feine Flocken schwebten wie graue Fetzen im schmutzig grünen Wasser, das von den Lichtkegeln der Lampen und dem Kamerascheinwerfer erhellt wurde. Rechts neben ihnen tauchte ein Technikraum auf. Überall verrostete Rohre, ein halb zerfallenes Metallfass und wie Speere in den Raum ragende, scharfkantig korrodierte Reste eines umgestürzten Regals. Durch das zerstörte Bullauge des Raumes quetschte sich ein faustgroßer, mit Seepocken bewachsener Taschenkrebs. Henry hielt inne und filmte, wartete, bis das Tier verschwunden war, und nahm seinen Weg wieder auf. Alexander folgte ihm dicht auf. Sie glitten über eine Treppe tiefer in den Bauch des

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