Die Seele des Ozeans
wolle das Gestirn zeigen, dass dies der richtige Weg war.
Kjell tauchte ab und peitschte mit einem wütenden Flukenschlag das Wasser. Also gut. Er würde es tun. Egal, ob es dumm oder gefährlich war. Egal, wie ungeduldig der Narwal nach ihm rief.
Schnell schwamm er durch das weite, offene Wasser. Kein Tier weit und breit war zu sehen, nur hier und da ein Schwarm winziger, leuchtender Wesen, die aus der Tiefsee aufstiegen. Unter ihm breitete sich der flache, dunkle Grund aus, durchsetzt von Felsen, die zuerst vereinzelt die ebene Fläche sprenkelten und zahlreicher wurden, je näher er der Insel kam. Langsam kamen sich Grund und Oberfläche näher. Er erinnerte sich, wie er das erste Mal in einer solchen Mondnacht durch das Meer geschwommen war, hungrig nach Freiheit und euphorisch, wie benommen vor Glück. Sein Staunen über seinen neuen Körper, über die Kraft in jeder Bewegung, über das Gefühl, endlos weit und endlos tief zu schwimmen, war grenzenlos gewesen. Tage- und nächtelang hatte er weder gegessen noch geschlafen, sondern war nur geschwommen. In den rauschenden Strömungen und den zerklüfteten Riffen, in den Tangwäldern der Küste und den Tiefseegräben der Hochsee.
Bis heute war dieser Hunger nicht gestillt worden. Durch die nächtliche See zu streifen, war nicht weniger berauschend als in den ersten Tagen nach der Befreiung von seiner Angst. Kjell pflückte Muscheln von den Felsen, knackte und aß sie, mal dösend über dem Grund treibend, mal geschaukelt von den Wellen an der Oberfläche.
Den Muscheln folgten ein paar Stängel Tang. Kraken und Rochen pirschten lautlos über den Grund und jagten nach unvorsichtiger Beute. Er ließ sich Zeit, obwohl seine Ungeduld brannte, streunte um die Felsen und grübelte in einem endlosen Gedankenstrudel über seine Gefühle. Das tat er so lange, bis er Faes Nähe spürte. Im Schutz der Klippen tauchte er auf und hielt nach ihr Ausschau. Brennend rann das Salzwasser aus seinen Lungen, bevor sie sich mit Luft füllten und die Kiemen ihre Arbeit einstellten.
Ja, da vorne war sie, beleuchtet von einem flackernden Feuer. Diesmal war sie alleine an den Strand gekommen, ohne ihren Bruder und dessen Freunde. Weil sie wollte, dass er zu ihr kam. Trotz der Dunkelheit hatte er das Gefühl, in ein helles Licht getaucht zu werden, gewebt aus Faes Sehnen, das allein auf ihn gerichtet war.
Aber hatte ihn das Drängen in seinem Herzen gerade noch zu diesem Menschen hingezogen, nahmen plötzlich andere Instinkte ihre Arbeit wieder auf.
Ein Feind! Kehr um. Schwimm weg.
Die Wellen drückten ihn an den kalten Fels der Klippen, doch unter Wasser zog eine Strömung an seinem Körper und befahl ihm, in die Tiefe zurückzukehren.
Ich gehöre nicht dorthin. Ich habe nie dorthin gehört!
Der Frau, die so verloren am Feuer saß, konnte niemand mehr helfen. Ganz gleich, wie stark sie ihn anzog, es war ein dummes Gefühl. Nichts weiter als eine Laune, die ihm das Meer schnell wieder austreiben würde.
~ Fae ~
Sie bemerkte erst, dass sie eingeschlafen war, als ihr Kopf auf die Brust niedersank. Fae zuckte zusammen, blinzelte und sah – nichts. Nur das ruhige Meer, die Felsen und die Sterne.
Ihre tauben Nerven fühlten weder die Wärme des Feuers noch die eisige Nachtluft. An dieses Gefühl, nichts zu fühlen, würde sie sich für den Rest ihres Lebens nicht gewöhnen.
Siehst du? Es hat gar nichts bedeutet, dass du gestern gefroren hast.
Absolut gar nichts.
Wenigstens der Geschmacks- und Geruchssinn war ihr erhalten geblieben. Müde zupfte sie ein Stück Teig ab, steckte es in ihren Mund und kaute langsam darauf herum, um jede Facette der Gewürze wahrzunehmen.
„Fae?“, flüsterte es plötzlich im Wind, gerade als sie sich mit geschlossenen Augen in die verschiedenen Aromen vertieft hatte. Sie blickte auf – und stieß einen Laut der Überraschung aus. Vor ihr stand Kjell. Nass und tropfend. Die dünne, schwarze Decke, die Henry vorhin auf die Leine gehängt hatte, klebte nass an seinem Körper. Aber er schien ebenso wenig zu frieren wie sie.
„Du bist gekommen.“ Fae wollte sich für diese dummen Worte ohrfeigen, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Sie starrte ihn an, wie man eine Traumfigur anstarrt, die neben dem Bett steht, obwohl man aufgewacht war. Er sah so wirklich aus. So echt.
Er ist wirklich und er ist echt. Langsam sollte ich es mal begreifen.
„Setz dich.“ Sie klopfte auf den Sand neben sich und wandte den Blick ab, in der Hoffnung, es ihm so
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