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Die Seele des Ozeans

Die Seele des Ozeans

Titel: Die Seele des Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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der diesen kindlichen Unschuldsblick zu solcher Perfektion gebracht hatte. Er war wie eine fest verschlossene Auster, wie eine unmöglich zu öffnende Schatztruhe, und sie verzweifelte an der immer stärker werdenden Ahnung, dass ihre Neugier niemals gestillt werden würde. Kjell konnte jeden Augenblick verschwinden und nie wiederkehren. Hier zu sitzen, erschien ihm falsch. Alles an ihm drückte diese Erkenntnis aus: Seine angespannte Haltung, seine verschlossene Miene, die gerunzelte Stirn und all die scheuen Blicke, die er ihr zuwarf. Sie wusste, dass es ihm unangenehm war, angestarrt zu werden. Aber Fae konnte nicht anders.
    „Was bist du, verdammt? Bist du ein Mensch?“
    Sie biss sich auf die Zunge.
    Er musste sie für verrückt halten, für eine senile Träumerin, deren Krankheit ihr das Gehirn zerfraß. Aber Kjell sah sie nur an. Still und sanft, geheimnisvoll und zauberisch. Und plötzlich sprudelte es aus Fae heraus: „Wenn du mir nichts erzählen willst, erzähle ich dir was. Willst du es hören?“
    Er nickte.
    „Also gut. Es ist die unbedeutende Geschichte meines Lebens. Achtzehn Jahre lang waren wir arm, aber glücklich gewesen. Urlaub konnten wir uns nicht leisten, aber das war mir egal. Wir hatten ein kleines Haus mit einem verwilderten Garten und einer schiefen Laube, das war mehr als genug, um mich zufriedenzustellen. Als ich elf war, starb meine Mutter bei einem Autounfall. Mein Vater hat sich das nie verzeihen können.“ Warum tue ich das?, fragte sie sich nach jedem Satz. Warum erzähle ich ihm das? „Er hätte sie damals von der Geburtstagsfeier ihrer Freundin abholen sollen, aber er schlief ein und überhörte das Telefon. Also ließ sie sich vom Sohn ihrer Freundin fahren, und der hatte gerade mal seit drei Wochen seinen Führerschein. Es regnete in dieser Nacht nicht mal. Es war nicht glatt und er fuhr angeblich nicht zu schnell. Trotzdem prallte er gegen einen Baum und war sofort tot, genau wie meine Mutter.“ Sie holte tief Luft, bestückte ihren Stock mit neuem Teig und hielt ihn in das Feuer. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Kjell ein Stück näher an sie herangerückt, und als sie sich umwandte, begegneten sich für einen Atemzug ihre Blicke. Seine Augen waren so unerklärlich fremdartig, sie waren lichterfüllte Abgründe, die sie mit einer solchen Kälte anstarrten, dass sich die Härchen in ihrem Nacken sträubten. Nein, sie waren nicht kalt. Nur unbegreiflich. Durch Kjells Körper lief ein Schaudern, als er sich wieder von ihr abwandte.
    „Ein Jahr später“, fuhr Fae fort, „hatte sich mein Vater ein neues Leben gesucht. Er zog weg, Alexander und ich fanden an der Universität ein neues Zuhause. Wir waren gut. Richtig gut. Aber jetzt, da mein Bruder seinen Berufswunsch erreicht hat, wo wir alle Zeit der Welt hätten, wo mir die Welt offenstünde und ich alles sehen könnte, was ich sehen will, klopft der Tod an meine Tür. Ich wollte zusammen mit Alexander die Welt erobern, jetzt haben Ukulele und Henry den Platz eingenommen, von dem ich dachte, dass er für mich bestimmt war.“
    Fae bemerkte verwundert, dass diesen Worten, so bitter sie auch geklungen hatten, keine Traurigkeit mehr anhaftete.
    „Es tut gut, all das herauszulassen, weißt du? Es tut gut, all das einem Fremden zu erzählen, einfach so. Es gibt nichts Heilsameres, als alle Schleusen zu öffnen und sich den ganzen Mist von der Seele zu plappern.“ Sie drehte ihr Stockbrot und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Na, ist der Wink mit dem Zaunpfahl angekommen?
    „Bist du wütend auf Henry und Ukulele?“, fragte Kjell.
    „Warum sollte ich? Die beiden können nichts dafür. Ich war nur wütend auf meinen Körper. Auf das wuchernde Ding in meinem Kopf und auf die Tatsache, dass Krankheiten wie diese überhaupt existieren dürfen.“
    „Aber jetzt nicht mehr“, stellte er ruhig fest.
    Fae spürte, wie sie lächelte. Bitte rede weiter. Hast du eine Ahnung, wie schön deine Stimme ist? Ich könnte ihr ewig zuhören. Ich will mich hier ans Feuer legen und dir einfach nur zuhören, auch wenn du mich wahnsinnig machst.
    Aber Kjell tat ihr den Gefallen nicht. Er pflückte den letzten Rest Stockbrot von seinem Stock und aß ihn auf, ohne ein Wort zu sagen.
    „Weißt du etwas vom Tod?“, fragte Fae geradeheraus. „Was erwartet uns danach?“
    „Er ist nicht schlimm.“ Kjell bohrte den Stock in den Sand. „Ich bin schon einmal gestorben. Es ist so, als wäre man schrecklich müde, und als würde man nur

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