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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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in der Hand stieg ich in Jochis Dachkammer hinauf, setzte mich zu meiner schlafenden kleinen Schwester aufs Bett und nahm Abschied von ihr. Als ich ihr sacht über die Stirn strich, wedelte sie unbeholfen mit ihrer dicken Patschhand herum, als wolle sie im Schlaf eine Fliege vertreiben. Dann öffnete sie kurz die Augen, murmelte schlaftrunken ein paar Worte und rollte sich auf die andere Seite. Ich nahm das dünne, goldene Kettchen ab, das ich trug, und legte es neben ihr auf das Kissen. Dann ging ich leise hinaus. Ich war so traurig, die Tränen liefen mir übers Gesicht. Was würde nun aus ihr werden?

    Noch vor Tagesanbruch verließ ich mein Elternhaus. Mein Herz war schwer wie Blei. Ich wusste nicht, ob ich die Menschen, die ich liebte, jemals wiedersehen würde. Aber mir blieb keine Wahl. Ich konnte mit Chajim nicht leben. So huschte ich durch die Dunkelheit, damit mich keiner im Judenviertel entdeckte. Mit dem ersten Sonnenstrahl passierte ich die Judenpforte. So schnell ich konnte, lief ich am Rathaus vorbei, durch die Gassen und Straßen bis zur südlichen Stadtmauer.
    Als die Flügel des Stadttors sich öffneten, war ich die Erste, die hinaus ins Freie trat. Zum ersten Mal im Leben war ich ganz allein.

ZWEITES BUCH
    Ritter, Mönch und Medica

München, Winter 1411
    Jehuda Mendel trat vor die Tür und warf einen Blick auf den dunklen Abendhimmel. Es war klares Wetter und eisig kalt, und der Alte rieb sich frierend die Oberarme. Man schrieb den letzten Tag im Dezember, den Abend der Jahreswende nach christlicher Zeitrechnung. Überall auf den Plätzen und Straßen der Stadt München brannten deshalb christliche Feuer, und viele Leute trafen sich im Freien, um sich ein gutes neues Jahr zu wünschen. Die Juden verweilten dagegen still in ihren Häusern und zelebrierten die Hawdala, das Ende des Schabbat. Denn das jüdische Jahr endete nicht mitten im Winter, sondern dann, wenn der Sommer und die Ernte vorüber waren, am Anfang des siebten Monats, der Tischri hieß.
    Jehuda kniff die Augen zusammen. Ah, da waren sie schon, die drei ersten Sterne, die sich nach Sonnenuntergang zeigten und damit das Ende des Schabbat markierten. Der alte Mann schnupperte. Es roch nach Schnee, nach dem halb gefrorenen, kotvermischten Matsch in den Gassen, nach dem brenzligen Rauch der vielen Herdfeuer. Bald würde er den wunderbaren Duft von Gewürzen riechen, dachte Jehuda zufrieden und trat wieder in die warme Stube.
    Drinnen fuhrwerkte die alte Jettl, seine Hausmagd, schon lautstark herum. Sie war ein umtriebiger Mensch und tat sich immer schwer, die Sabbatruhe einzuhalten; kaum war der Feiertag vorbei, werkelte sie schon wieder unermüdlich. Jetzt richtete sie den Tisch her, breitete ein sauberes Tuch darauf aus, brachte den Wein und die mehrdochtige Schabbatkerze. Dann holte sie die Besamimbüchse vom Wandregal, ein hübsches Silbergefäß in Form eines zinnenbewehrten Turms. Jehuda brachte derweil die Rolle mit Texten aus der Thora. Er setzte sich umständlich, und auch die alte Dienerin ließ sich mit einem kleinen Ächzen am Tisch nieder. Jehuda entrollte die Schrift, las dann, wie es der Brauch war, laut aus dem Buch Jesaja vor und fügte noch einige Psalmen an. Ein Schluck Wein wurde feierlich getrunken, und dann klappten die beiden Alten den Deckel der Besamimbüchse auf und sogen die darin befindliche Gewürzmischung tief in ihre Lungen. So sollte der Duft von Ruhe und Frieden die Woche über in den Menschen bewahrt werden, bis zum nächsten Schabbat.
    Wie sie sich so gegenübersaßen, gaben die beiden Alten ein recht gegensätzliches Pärchen ab. Jehuda war groß und hager, hatte dünnes graues Haar und einen welligen, silberweißen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Über dem Bart ragte eine lange, spitze Nase aus seinem von unzähligen Fältchen durchzogenen Gesicht. Jettl hingegen war klein, breithüftig und rundlich, hatte ein knubbeliges Kinn und runde schwarze Äuglein wie eine Maus. Wenn sie stand, reichte sie ihrem Herrn kaum bis zur Brust.
    Nach einem letzten Gebet und dem Singen eines Lieds wünschten sich die beiden »Schawua tow«, eine gute Woche. Dann löschte Jettl die Schabbatkerze, indem sie die Dochte in den Wein tunkte. Jetzt konnte man zum Alltag zurückkehren. Und der begann mit einem guten Abendessen. Jettl trug Grützwürste, Brot und Schmalz auf, holte Zwiebeln und ein paar getrocknete Feigen für die Verdauung, brachte einen Topf heiße Brühe und ein Schüsselchen Salz. Fast hätte sie

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