Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Oldcastle legte mit ungläubigem Kopfschütteln das Manuskript beiseite. Whistle hatte einen Boten geschickt, um den Führer der Lollardenbewegung aus Kent holen zu lassen. Oldcastle setzte mit diesem Besuch viel aufs Spiel, er wusste, dass ihm zu London die Verhaftung drohte. Doch das, was John Wyclif in seinem Vermächtnis geschrieben hatte, war so unerhört, barg solche Sprengkraft, dass Oldcastle es mit eigenen Augen sehen musste, um es zu glauben. »Ihr hattet recht, Thomas Whistle, bei Gott«, sagte er nun und atmete tief durch. »Dies ist kein einfaches Testament, dies ist die Aufforderung zum Umsturz des Glaubens im gesamten Abendland! Nie hätte ich vermutet, dass John Wyclif am Ende seines Lebens so weit gehen würde!«
Whistle nickte ernst. »Deshalb habe ich Euch ja holen lassen. Was der Meister hier geschrieben hat, wird die Welt des Glaubens bis in die Grundfesten erschüttern. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, bereut er zutiefst, nicht besser für seine Überzeugung gekämpft zu haben. Er verlangt von uns, dass wir die Sache gegen den Papst höchstselbst durchfechten. Dass wir das Oberhaupt der Christenheit vom Thron stürzen! Herrgott, was muss in seinen letzten Tagen in ihm vorgegangen sein? Wie sehr muss er mit sich gerungen haben, um solch Unglaubliches auch nur zu denken?«
»Aber er hat recht, Thomas, er hat recht.« John Oldcastle hieb mit der Faust auf den Tisch. »Die Kirche ist verdorben bis ins Mark. Es ist ein Hohn für Gott und alle Gläubigen. Wie lange sollen wir dem noch zusehen?«
»Ihr wollt also tatsächlich den Aufstand?«, kollerte Whistle mit seiner tiefen Stimme. »Wie soll das gehen? Wir haben nicht die Kraft, das wisst Ihr so gut wie ich. Das Verhältnis zwischen den Anhängern Wyclifs und der englischen Kirche hat sich stetig verschlechtert. Erst haben sie unsere Schriften verboten und uns in den Untergrund gezwungen. Dann vor ein paar Jahren die ersten Hinrichtungen. Und seit Henry Lancaster König ist, verfolgt er uns erbittert. Er wird nicht eher ruhen, als bis wir alle unser Ende im Feuer gefunden haben. Unsere Zeit läuft ab.«
Oldcastle sagte eine Weile gar nichts. Dann kniff er die Augen zusammen und sah Whistle ins Gesicht. »Wer spricht denn von uns?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Der Anführer der Lollarden fuhr sich durchs schüttere Haar. »Hört, Thomas Whistle. Ich glaube, dass der Meister am Ende seines Lebens weit mehr vorausgesehen hat, als er uns damals sagen wollte. Der Allmächtige hat ihn ahnen lassen, dass unsere Bewegung bald mit Feuer und Schwert verfolgt werden würde. Und er hat ihm auch eingegeben, wann wir seine Schrift finden würden. Dies ist ein göttlicher Plan, Whistle, und wir sind ein Teil davon.«
»Sprecht weiter.« Thomas Whistle nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinpokal, um sich für alles Weitere zu wappnen.
»Glaubt Ihr denn«, sagte Oldcastle beschwörend, »es ist Zufall, dass Wyclifs Vermächtnis ausgerechnet jetzt wieder aufgetaucht ist? Nein, mein Freund, es ist genau die richtige Zeit. Seht auf den Kontinent: Die Kirche ist in der schlimmsten Bedrängnis seit Menschengedenken. Sie ist nur noch ein leerer Weinschlauch, kraftlos, ohne Führung. Wie viele Päpste haben wir? Drei! Drei machtgierige, verderbte Männer, die sich um das Erbe des Petrus streiten wie Diebe um ein paar Goldstücke! Überall wenden sich die Menschen von diesen falschen Propheten ab, suchen eine neue Wahrheit, einen neuen Führer, der sie dem Himmel näher bringt und Gott ein Wohlgefallen ist. Ihr habt recht, Thomas Whistle, wenn Ihr sagt, dass wir in England zu schwach sind, um uns gegen das Papsttum aufzulehnen. Deshalb muss die Flamme auf den Kontinent getragen werden.«
Oldcastle lehnte sich in seinem Stuhl zurück, erschöpft von seinem leidenschaftlichen Vortrag.
»Aber wohin, und zu wem?«, fragte Will, der soeben mit Ciaran und Connla den kleinen Saal betreten und die letzten Sätze gehört hatte. In ihren Kleidern hing noch der Brandgeruch vom Richtplatz.
Thomas Whistle hob die Hand. »Setzt Euch und hört zu. Ich glaube, Sir John, ich weiß, wen Ihr meint.«
Oldcastle nippte an seinem Becher, bevor er weitersprach. »Drüben auf dem Festland, genauer gesagt, in Böhmen, lebt ein Mann, der reinsten Glaubens ist. Sein Name ist Jan Hus. Einer seiner Gefolgsleute, ein Geistlicher namens Hieronymus aus Prag, war vor etlichen Jahren in Oxford. Er hat mir damals Briefe und Abhandlungen seines Freundes überbracht. Und ich sage Euch, aus
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