Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
Seherin stammte.
Allmählich gewann Tortha etwas von seiner früheren Kraft zurück. Doch erfüllte für alle Zeiten eine vage Düsternis seinen Verstand, ein unauflöslicher trüber Schattenfleck, gleich der Unschärfe geblendeter Augen, die in eine unerträgliche Helligkeit geschaut haben.
Unter jenen, die ihn umsorgten, lebte eine blasse, aber nicht reizlose junge Frau. Und in der Dunkelheit, die über ihn gekommen war, hielt Tortha sie für die Seherin. Der Name der Frau war Illara und in seiner Verirrung liebte Tortha sie. Und seiner Familie und seiner Freunde in Cerngoth vergessend, weilte er seitdem bei den Bergmenschen, nahm Illara zur Frau und ersann die Lieder für die kleine Sippe. Die meiste Zeit über war er glücklich in seinem Glauben, die Seherin wäre zu ihm zurückgekehrt – und Illara gab sich auf ihre Weise zufrieden damit, nicht die erste sterbliche Frau zu sein, deren Geliebter einem göttlichen Trugbild treu bleibt.
Die Ankunft des weißen Wurms
Neuntes Kapitel aus dem Buch des Eibon
Aus der altfranzösischen Handschrift des Gaspard du Nord
Evagh der Hellseher, der am Rande des Nordmeeres lebte, erkannte mitten im Sommer viele sonderbare und verfrühte Vorzeichen des Winters. Die Sonne erstrahlte über Mhu Thulan in einem Himmelszelt, das so klar und fahl wie Eis war. Am Abend erstreckte die Dämmerung sich vom höchsten Punkt des Himmels bis zur Erde wie ein Aufgebot in einem hohen Saal der Götter. Blass waren die wenigen Mohnblumen und klein die Anemonen in den von Klippen begrenzten Tälern jenseits des Hauses von Evagh, und die Früchte seines ummauerten Gartens zeigten farblose Schalen und einen grünen Kern. Zudem sah er bei Tag den Flug unzähliger Vögel, die trotz der Jahreszeit bereits von den verborgenen Inseln jenseits von Mhu Thulan nach Süden flogen, und des Nachts lauschte er dem elenden Klagen weiterer Vogelscharen. Und stets hörte er im lauten Wind und der weinenden Brandung merkwürdig flüsternde Stimmen aus dem Reich des ewigen Winters.
Evagh war besorgt über diese Vorzeichen, ganz wie es das einfache Fischervolk im Hafen unter seinem Hause war. Da er ein Meister in der Kunst des Hellsehens war und Dinge sah, die in weiter Zukunft geschahen, nützte er sein Können, um diese Vorzeichen auszulegen. Doch tagsüber hing ein Schleier über seinen Augen, und Finsternis vereitelte seine Pläne, wenn er Erleuchtung im Traume suchte. Seine klügsten Sterndeutungen führten zu nichts, seine vertrauten Geister schwiegen oder gaben zweideutige Antworten, und Verwirrung war die Folge, wenn er die Erde, das Wasser und den Flug der Vögel befragte. Und es schien Evagh, als arbeite eine unbekannte Macht gegen ihn, um seine Zauberkraft, die bislang niemand geschlagen hatte, zu verhöhnen und wirkungslos zu machen. Und Evagh wusste aus gewissen Omen, die ein Magier wahrzunehmen vermag, dass jene Macht eine böse war und den Menschen Unheil bringen würde.
Tag für Tag, den ganzen Mittsommer hindurch, fuhren die Fischer in ihren Schaluppen aus Elchleder und Weidenholz aus und warfen ihre Netze. Doch in diesen Netzen fingen sie nur tote Fische, verkrumpelt wie durch Feuer oder Eiseskälte. Manchmal fingen sie auch lebende Ungeheuer, die selbst den ältesten unter ihnen unbekannt waren: Wesen mit drei Köpfen und Schwänzen, grauenhaft anzusehen; schwarze, gestaltlose Kreaturen, die zu fauligem Brackwasser wurden und aus dem Netz tropften; oder kopflose Wesen, die aussahen wie aufgeblähte Monde mit grünen, eisigen Strahlen; oder Wesen mit Augen, die wie vom Aussatz zerfressen waren und versehen mit schleimiger Galle.
Dann kam eine Galeere aus dem Nordmeer, wo die Schiffe aus Cerngoth zwischen den Inseln der Arktis kreuzten, und die Ruder dieser Galeere waren untätig, das Steuer ziellos. Die Flut drängte die Galeere zwischen die Boote der Fischer, die nicht mehr ausgefahren wurden, sondern unter der Klippe, auf der Evaghs Haus gebaut war, auf dem Sande ruhten. Und die Fischer, die sich der Galeere erstaunt und verwundert näherten, sahen die Ruderer an ihren Plätzen und den Kapitän am Steuer. Doch ihre Gesichter und Hände waren fahl wie Knochen und weiß wie das Fleisch der Aussätzigen. Sonderbar verblasst war die Farbe ihrer offenen Augen, sodass man sie nicht mehr vom Weiß unterscheiden konnte, und in diesen Augen lag ein leerer Schrecken, ähnlich wie Eis in tiefen Tümpeln, die rasch bis auf den Grund gefrieren. Und Evagh selbst, der später hinzukam, sah die
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