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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Orquestra Plateria erinnerten, betrachteten das Mahnmal; sie schienen zu fachsimpeln. Um sie herum standen weitere Menschen, die das Mahnmal ansahen und vielleicht den Fotografen (Peret von den Moliners). Das Foto war voller Details, die dem Fotografen gar nicht aufgefallen waren, weil er sich ganz auf das Mahnmal konzentriert hatte. Die zweite Aufnahme, das Mahnmal auf dem menschenleeren Platz, war genau drei Sekunden vor der Explosion der Bombe entstanden, die den Fotografen das Leben gekostet hatte. Der Maquis tötete Peret von den Moliners, der immer links gewählt hatte, als man noch wählen konnte.
    Ein drittes Foto von ganz anderer Machart, sicherlich von einem anderen Fotografen, zeigte die Zerstörung nach der Explosion und einen finster dreinblickenden Mann, der die Roten und Separatisten verfluchte, die unser Vaterland zerstören. Ringsherum liefen Menschen verschreckt durcheinander und bekreuzigten sich. Der trockene Geruch nach dem Pulver, das die Bombe gezündet hatte, hing noch in der Luft, und das größte Stück des Mahnmals war zehn Schritt weit geflogen. Am Bildrand war undeutlich ein Mann zu sehen, der dachte, in welche Welt haben wir dich geboren, meine namenlose Tochter.
    Tina sah sich die übrigen Fotos an. Gutes Material. Es hatte nichts mit dem Buch zu tun, an dem sie arbeitete, wohl aber mit Oriol. Herzlichen Dank, Joana, dachte sie und sah die Sekretärin an.

35
    Ein reiner, schimmernder Frühlingshimmel mit nadelspitzen Sternen verkündete Jaume Serrallac, daß die Botschaft seines Lichts zu alt und zu fern war, um sie zu verstehen. Aber Serrallac hörte nicht auf das, was die Sterne ihm sagten. Er betrachtete das Sternbild, das aussah wie ein W, ohne zu wissen, daß Kassiopeia ihre Familie ins Unglück gestürzt hatte, als sie in ihrem Stolz verkündete, ihre Tochter Andromeda sei hübscher als die Nereiden. Ausgerechnet die Nereiden! Was für eine Unverschämtheit! Und nun stand sie gemeinsam mit ihrem Gatten Kepheus reglos am eisigen Himmel, neben Andromeda und ihrem geliebten Retter Perseus. So viel Leidenschaft, so viel Sühne, so viele Schicksalsschläge über Serrallacs Kopf. Aber er dachte, während er in den Himmel sah und ruhig eine letzte Zigarette rauchte, nur darüber nach, wo er zum Teufel noch mal einen zweiten Kredit auftreiben könnte, um die Löcher zu stopfen, die die Reparatur des Lastwagens gerissen hatte. Ein Kälteschauer überlief ihn, und er zog den Reißverschluß seines dicken Pullovers bis zum Hals hoch.
    Die schwache Glühbirne auf der anderen Seite des Platzes brannte nicht, wie damals, als er noch klein war und Trupps des Maquis oder bange Scharen von Männern, Frauen und Kindern mit angstvollen Augen, zitternde Flüchtlinge, heimlich zur Schule gezogen waren, um dort ein paar Stunden auszuruhen, bevor sie ihren Weg ins Ungewisse fortsetzten. Serrallac hatte nie davon erfahren.Von seinem Pult links an der Wand aus hatte er die Landkarten betrachtet, die ihn zum Träumen verleiteten, und sich vorgestellt, wie er den Amazonas hinaufruderte, dieses blaue, grün gesäumte Band. Und wenn er dann in dem braun-weißen Gebiet angekommenwäre, an den Quellen des Amazonas, würde er einen so lauten Schrei ausstoßen, daß man ihn in ganz Amerika hören könnte, von der Beringstraße bis nach Feuerland.
    »Was ist, Jaumet?«
    »Ich weiß nicht … der Amazonas … mir wird schwindlig davon …«
    »Und warum?«
    »Wievielmal ist er größer als der Pamano? Oder als die Noguera?«
    Oriol sah forschend in Jaume Serrallacs blaue Augen. Er war vielleicht das einzige Kind der Klasse, das über alles nachdachte, der einzige, der an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit Großes hätte studieren können; aber in Torena würde Jaumet, wenn sein Vater sich nicht bald entschließen konnte, Sense, Gras, Kuh, Schaf und mit etwas Glück die Zucht von Zugtieren studieren, denn das brachte Geld und hatte Zukunft, jetzt, da alle Maultiere und Esel für den Krieg requiriert waren. Oder vielleicht würde er mit seinem Vater, dem Steinmetz Serallac, Grabsteine und Bodenplatten bearbeiten.
    »Der Amazonas ist … mehr als tausendmal größer als der Pamano.«
    »Nein.« Jaumet Serrallac war überwältigt.
    »Doch.«
    Den ganzen kalten Nachmittag lang sagte Jaumet nichts mehr, weil er versuchte, sich tausend Pamanos in einem auszumalen, und das ganze Vall d’Àssua zu einem Fluß wurde, der ebenso unvorstellbar war wie die legendäre Weite des Meeres. Das waren seine Träume,

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