Die Stimmen des Flusses
Lieber.«
Fünf Minuten. Fünf Minuten Privatgespräch zwischen dem Heiligen Vater und Senyora Elisenda. Als sie zu ihrem Sitz zurückgeht, sieht der Botschafter sie mit steigender Achtung an. Hinter ihren dunklen Gläsern erinnert sie sich an das, was ihr im Kopf herumgeht und was während ihres Gesprächs mit dem Heiligen Vater wieder hochgekommen ist. Sie erinnert sich daran, wie sie bei Oriols Beerdigung beschloß, von keinem anderen Menschen mehr abhängig zu sein als von sich selbst, um jeden Preis. Und sie erinnert sich an Mutter Venància und ihre strenge Unterweisung, meine Tochter, Gott hat dir ein härteres Los auferlegt als den anderen Mädchen hier in der Schule, weil du ohne Mutter aufwächst. Und Onkel August? Ohne Mutter, mein Kind. Und das heißt, daß ich mich verpflichtet fühle, in diesem Augenblick, da du mit siebzehn die Schule verläßt, Mutterstelle an dir zu vertreten. Sicherlich willst du doch eine vorbildliche Christin, gute Gattin und Mutter sein? Und da deine Eltern dir nicht sagen können, tu dies und laß das, weil dein Vater … Und Onkel August, Mutter Venància? Das ist etwas anderes, mein Kind. Du mußt wissen, daß die Männer deine Feinde sind, weil sie nur an einer Sache interessiert sind, nur eine Sache wollen.
»Was für eine Sache, ehrwürdige Mutter?«
»Eine.«
»Aber was für eine?«
»Eine.«
Stille im Besucherzimmer. Der Koffer der Schülerin Elisenda Vilabrú (eine Eins in Religion, Rechnen, Geographieund Geschichte, eine Zwei in Spanisch, Latein und Naturwissenschaften und eine Vier in Nähen und Sport) stand neben ihren Beinen wie der Hund von Quet, wenn er es müde war, die Kühe über die Weide von Sorre zu jagen. Mutter Venància wußte nicht, wie sie es ihr erklären sollte, schließlich war sie keine Mutter. Schließlich sagte sie vage: »Die Regel.«
»Die Regel? Sie wollen die Regel?« Elisenda klopfte mit einem Fuß auf den Boden. »Na, die können sie meinetwegen geschenkt haben.«
»Nein, meine Tochter, ich meine …«
Mutter Venància schaffte es einfach nicht. Aber sie schärfte dem Mädchen ein, sich vor den Männern zu hüten wie vor der Sünde, denn sie haben diese besondere Stimme, damit können sie dich betören, vor allem, wenn sie schöne Hände und diese tiefen Augen haben, verstehst du, meine Tochter? »Und du mußt wissen, wenn du dann in den heiligen Stand der Ehe trittst, mußt du dem gehorsam sein, der dein Mann sein wird. Schon Pater Ossó hat gesagt, daß das eheliche Glück seinen Ursprung darin hat, daß die Frau hinnimmt, daß sie dem Manne untergeordnet ist und daß sie seinen Wünschen willfahren muß. Ich hoffe, du verstehst mich, mein Kind.«
Sie stellte sich sehr ungeschickt an.Vielleicht übertrieb sie es deshalb auf einem Gebiet, auf dem sie sich sicherer fühlte: »Eine Frau ist glücklich, wenn sie fromm ist, wenn sie jeden Tag betet, regelmäßig zur Kirche geht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden versteht, weil sie nach dem Guten strebt. Eine Frau, die Gott für alles dankt, was er ihr gegeben hat, und dafür Sorge trägt, daß es gedeiht.«
»Ist es eine Sünde, reich zu sein?«
»Was sagst du denn da, Kind? Im Gegenteil: Die Reichen können Gutes tun, ihren Brüdern helfen …«
»Und wie ist das mit dem Kamel und dem Nadelöhr?«
»Kümmere dich nicht um die Bilder: Du hast die Möglichkeit, Gutes zu tun, und daher auch die Pflicht, es zu versuchen.«
Sie schwiegen. Der Wagen mußte schon vor einer ganzen Weile vorgefahren sein, und Elisenda fühlte sich seltsam kribbelig. Sie sah Mutter Venància in die Augen. Diese verstand, daß die Schulzeit dieses rätselhaften, klugen, harten, schönen, reichen, stolzen und unnahbaren Mädchens nun endgültig zu Ende war. Sie hätte eine gute Nonne abgegeben, sogar eine ausgezeichnete Mutter Oberin. »Tu immer, was du tun mußt, wenn du glaubst, es tun zu müssen«, sagte sie ihr, ohne zu wissen, daß sie damit in ihre junge Seele wie mit Feuer die Devise einbrannte, die ihr ganzes Leben bestimmen sollte.
46
Nachdem sie Santiago und Valentí Targa beerdigt hatte und Marcel ins Internat zurückgekehrt war, setzte sich Elisenda Vilabrú vor das Bild, das Oriol von ihr gemalt hatte, um nachzudenken. Wie sie dem Zivilgouverneur versprochen hatte, fand sich schon am Tag nach dem unerwarteten Tod des Bürgermeisters von Torena ein Amtsnachfolger. Pere Cases von den Majals erklärte sich freiwillig bereit, nachdem Senyora Elisenda ihn ordentlich ins Gebet genommen hatte.
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