Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Straße nach Eden - The Other Eden

Titel: Die Straße nach Eden - The Other Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bryant
Vom Netzwerk:
dem Traum und den Zeilen aus Eves Tagebuch und formten gemeinsam eine Idee, die ich in jeder anderen Nacht als irrwitzig abgetan hätte.
    Ich sprang aus dem Bett und musste mich sofort an einem Pfosten festhalten, weil sich der Raum um mich zu drehen begann. Einen Moment lang wunderte ich mich, was um alles in der Welt mit mir los war, doch dann begriff ich, dass der Tee mit einem Schlafmittel versetzt gewesen war - vermutlich mit meinem eigenen Chloralhydrat - und davon nicht zu wenig. Obwohl ich wusste, dass er nur zu meinem Besten hatte handeln wollen, fiel es mir schwer, meine Wut auf Alexander zu unterdrücken und mich auf mein momentanes Vorhaben zu konzentrieren.
    Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, stieß ich die Tür auf und trat in den Flur hinaus. An einem Ende brannte ein Nachtlicht, das aber wohl nur meiner Beruhigung dienen sollte; ich konnte keinen halben Meter weit sehen. Mein Atem kam in kurzen, abgehackten Zügen, als ich die Treppe hinunterschlich, deren Stufen unter mir zu schwanken schienen, weil das Chloralhydrat mein Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigte. Unten angekommen huschte ich in den rechten Korridor, in dem die große Standuhr laut tickend die Sekunden zählte. Ich schob einen Daumennagel unter eine abgeblätterte Ecke der roten Tapete, die die Wand hinter der Uhr bedeckte. Sie ließ sich leicht ablösen, und ich wusste nicht, ob ich Entsetzen oder Befriedigung verspüren sollte, als darunter nicht der nackte Putz, sondern ein gemaltes Blütengeflecht zum Vorschein kam.
    Ich benötigte mehr Licht, wollte aber nicht riskieren, jemanden aufzuwecken. Nach kurzer Überlegung öffnete ich
die Tür der Bibliothek und schaltete die Lampe auf dem Schreibtisch meines Großvaters ein. Von ihrem Licht fiel genug in den Flur, dass ich sehen konnte, was ich tat.
    Ich zog die Tapete in breiten Streifen ab, ohne zu bemerken, wenn ich mir die Finger daran aufritzte; ich hatte nur Augen für das immer größer werdende Bild eines Gartens, das sich mir darunter enthüllte. Dann legte ich ein Gesicht frei: das weiße, herzförmige Gesicht einer Frau mit schwarzen byzantinischen Augen…
    »Eleanor!«, riss mich eine bestürzte Stimme aus meiner Versunkenheit. Ich fuhr herum und blickte in Marys erschrockenes Gesicht. »Was in Gottes Namen tust du da?«
    Ich deutete mit einem zitternden Finger auf das Gesicht des Zwillings, das uns von der Mitte der Wand her anstarrte. Mary musterte es flüchtig, dann sah sie mich an und berührte behutsam meine Wange. Ihre kühlen Finger brachten mir plötzlich zu Bewusstsein, wie erhitzt ich war.
    »Ich … ich hatte einen Traum«, erklärte ich in der Hoffnung, die Furcht, die in ihren Augen aufflackerte, eindämmen zu können. »Einen Albtraum. Alexander war tot, und Dorian hat die Zwillinge getötet … und dann wusste ich auf einmal, wo ich danach suchen musste.« Ich zeigte auf das Wandgemälde.
    Mary nahm mich am Arm. »Du bist krank, Eleanor. Ich bringe dich jetzt ins Bett zurück.«
    Ich machte mich los, riss zwei weitere Tapetenstreifen ab und brachte ein zweites Frauengesicht zum Vorschein. Sie hielt den Blick gesenkt und schien von einer tiefen Trauer erfüllt zu sein.
    »Da siehst du es selbst!«, rief ich. »Das sind Louis’ Gemälde!«
    »Komm jetzt mit, Eleanor«, beharrte sie. »Bitte.«
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das sah ich ihr an. »Mary? Ist alles in Ordnung mit dir?«

    »Aber sicher«, erwiderte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Es wird alles wieder gut.«
    Doch sie konnte mir nicht in die Augen sehen, und mit einem Mal setzten sich alle Puzzleteilchen zu einem Gesamtbild zusammen.
    »Du irrst dich«, beschwor ich sie, weil mir plötzlich klar war, zu welchem Schluss sie gelangt war. Ich begriff auch, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie aus diesem Irrglauben befreien sollte. Dorian hatte ihre Gedanken seit Wochen in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt, so wie er es bei uns allen versucht hatte, aber im Gegensatz zu Alexander und mir hatte Mary keinen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnte und der sie vor seinem schädlichen Einfluss warnte.
    »Es liegt an dem Schlafmittel«, fuhr ich verzweifelt fort. »Alexander hat mir zu viel davon gegeben.«
    Mary sah mich furchterfüllt und verständnislos an, und als mir bewusst wurde, welches Bild ich abgeben musste - in Schweiß gebadet, hohläugig, schwach und am ganzen Leibe zitternd -, konnte ich fast nachvollziehen, wieso sie glaubte, ihre schlimmsten Befürchtungen

Weitere Kostenlose Bücher