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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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meiner Träume, gehört gleichfalls ihm.«
    »Möchten Sie auch da wohnen?« sagte Melzer lebhaft.
    »Ja freilich«, rief Stangeler. »Hier ist alles zugleich: die tiefste Tiefe der Stadt und das Frei-Sein von ihr, durch den grünen Abbruch des Terrains und den weiten Blick. Nicht das Land ist's, die Natur, oder wie sie da schon sagen, was mich lockt, und andererseits machen mich die ganz und gar verbauten Straßenzeilen im Frühjahr, Sommer und Herbst im Grunde ständig verrückt vor Angst. Aber was hat der Graf Berchtold schon davon? Er versteht nichts. Sonst würd' er hier wohnen und sitzen und nicht in Böhmen, wie er tut. Er hat ja auch von den Dingen, die ihm anvertraut waren, nichts verstanden.«
    »Glauben Sie das wirklich?« sagte Melzer.
    »Ja«, antwortete Stangeler in aller Ruhe. »Der alte österreichische Staat hat damals und seit undenklich langer Zeit schon England gegenüber eine total verkehrte Politik gemacht. Gerade die Situation nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand, diese kritische, schwankende Lage, wäre die letzte Gelegenheit gewesen, um hier in ein anderes Ge leise zu kommen, auch ohne die Deutschen kraß zu verstimmen und zuletzt zu ihrem Heile, denn sie wären von uns dann nicht obendrein noch in einen Krieg hineingerissen worden.«
    René sagte noch einiges, was alles im offenen Widerspruch stand zu sämtlichen Gesprächen in der Offiziers-Messe von Trnovo an der Jelesnitza in Bosnien, wie sie nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers dort geführt worden waren und an welchen auch Melzer im gleichen kriegerischoptimistischen Racheschwunge sich beteiligt hatte, während man im Begriffe stand, wie zu einer Rittergeschichte aufzubrechen oder um den Raub der Helena an den Trojanern zu rächen … »Der Krieg wär' auf jeden Fall gekommen«, sagte Melzer, ohne daß ihm dabei so ganz wohl wurde, schon deshalb nicht, weil einiges durch seinen Kopf krabbelte, was seit dem Zusammenbruche der Monarchie immerhin bei ihm eingekrochen war. »Sagen Sie das nicht«, antwortete René. »Niemand kann behaupten, daß einer kritischen Lage jemals Dauer eignen könne, es würde das sogar ihrem Begriffe widersprechen. Hätte man jene nur für diesmal mit genauer Not noch ohne Krieg hinter sich gebracht; wer kennt die Lösungen, welche schon im nächsten Zimmer der Zukunft warten? Die Veränderungen, welche da von anderen Ebenen her in die empfänglich und bildsam gebliebene, noch nicht zur Katastrophe verhärtete Situation hätten hineinwirken können? Nein, es kommt in gewissem Sinne wirklich darauf an – zu überleben, diesem augenblicklichen Tode hier, der sich so überzeugend aufdrängen will, die Spitze zu bieten, um dann beim Betreten des nächsten sich eröffnenden Raumes ihn dahinten zu lassen, wo er also vergebens gewartet hat, und ihm die eiserne Tür des Gewesenen vor der eingesunkenen Nase zuzuschlagen. Es gab nie eine europäische Situation, die früher oder später zum Kriege führen mußte. Das sind feierliche Erfindungen von Interessierten, von Berufspolitikern, Generälen, G'schaftlhubern oder Historikern, oder Ausdünstungen jener Leute, denen die Sprache der Zeitungen durch's Hirn schwappt, wie das Spülwasser durch eine Clo-Muschel. Damit bringen sie dann freilich immer alles hinunter. Es gibt nur Sessel, auf denen man zu lange sitzen bleibt, auch Minister-Sessel, oder Zimmer, die man zu früh verläßt, vielleicht nur zehn Minuten zu früh, oder Depeschen, die man zu lang in der Hand behalten hat …« Er wies mit einer kurzen zornigen Bewegung des Kinns über die Stiegen hinauf in die Richtung des gräflichen Palais. Auch hier verlor Melzer den Faden. Aber nicht, weil er etwa René zu folgen unvermögend gewesen wäre, sondern weil von einem ganz bestimmten Augenblicke an etwas wesentlich anderes ihm unter das Thema dieses Gespräches sickerte und sich dort ansammelte, so, daß gleichsam alles in's Schwimmen und Schweben geriet, über einem gar nicht gemeinten Grunde treibend. Jener ganz bestimmte Augenblick war markiert durch Stangelers Bemerkung über die total verkehrte österreichische Politik England gegenüber. Bald danach stellte sich freilich die Erinnerung an jenes Gespräch ein, das vor genau vierzehn Jahren von Buschmann, Geyrenhoff, Marchetti und Lindner geführt worden war, in einem Zimmer des alten Gasthofs neben der rauschenden Mühle, in bunten Pyjamas, mit Weingläsern und Kaffeetassen, wobei der längst in serbischer Erde ruhende Grabmayr

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