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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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indem weitergegangen und hatten die Mitte der oberen Rampe erreicht. Stangeler beachtete Melzern kaum mehr. Er sprach so, als lese er seinen Text von irgendwo fertig ab. »Ja, solches steht hinter dem Antlitz voll süßer Bedeutung, die nur wieder es selbst ist. Sie schreiben Briefe und wissen nicht, was sie geschrieben haben. Gemahne mich nicht des Gewesenen, denn ich hab' gar keines. Das sind die Gesichter der Frauen aus den großen Städten, viel besonderer, persönlicher und einzigartiger schon als eigentlich, ich möchte fast sagen, zulässig ist. Das Allzu-Individuelle. Es hat sich abgehoben oder aufgeworfen wie eine Blase, dahinter und darunter ist ein Hohlraum. Das Über-Individualisierte, entstanden aus den, bei zurückbleibender Lebens-Stubstanz, in ihrem Schwunge gleichwohl weitertreibenden natürlichen Kräften der immer neuen Bildung von Klassen, Variationen, Varietäten und Spezialfällen physiognomischer Art und ihrer immer neuen Raffinierung. Ja, alles will sich detaillieren. Es will ›gliedisch werden‹, wie Paracelsus sagt.« (René kümmerte sich bereits in einer an krasse Unhöflichkeit grenzenden Art nicht mehr um den Major.) »So entsteht Oscar Wildes ›Sphinx ohne Rätsel‹. So kommen die Frauen in Buenos Aires, in Wien, in Paris zu Gesichtern, deren individuellen Aufwand sie nicht mehr rechtfertigen und persönlich bestreiten, deren geheimnisvolles Versprechen sie gar niemals mehr einlösen könnten. Ja, das ist jenes rätselhafte Gesicht, das uns so sehr ergriff« (Melzer sah mit Verwunderung, daß René die Arme weit ausgebreitet hatte und gleichsam die Stiegen hinauf sprach), »eingerahmt von den dunklen und wieder lichtbeschütteten Fenstern der Untergrundbahn, den Blick draußen in der tumultuösen, von zahllosen Leuchtgeschöpfen bekrochenen Stadtweite, wenn der Zug auf einen hohen Viadukt hinausglitt: ja, geheimnisvollen Geschaus, unbekannten Wegs und Zieles. Aber es war weder ein Blick, noch ein Weg, noch ein Ziel. Es war und ist nur die furchtbar quälende, die tief in sich hinein reißende und beglückende Einmaligkeit, die wie ein Pfahl im Gedächtnisse sitzt und durchschlägt bis ins tiefste Kernholz der Erinnerung. Das ist Editha. Aber dort ist nicht Gedächtnis, nicht Erinnerung. Dort ist die Gondel, die schwebt, und losgerissen taumelt über der meilentief in den Hochsommer versunkenen Stadt. Dort ist Editha.«
    Melzer, der den Faden hier längst und neunmal und meilentief verloren hatte, starrte René doch völlig gebannt an: und verstand obendrein jedes Wort. Nicht wie ein Wort eigentlich, sondern wie eine Farbe, die man anschaut, wie einen Ton, der in's Ohr geht. Aber erst bei den allerletzten Worten begriff er, daß René hier wirklich jemand Anwesenden ansprach, und mit einem Ruck hob er den Kopf und sah empor. Oben auf der Plattform, die behandschuhten Hände leicht auf die steinerne Brüstung stützend, stand Editha Schlinger und sah lächelnd auf ihn und René herab. Melzer hatte in diesen Augenblicken die geradezu sich aufdrängende Empfindung, als habe Stangeler ihm aus Editha gleichsam vorgelesen wie aus einem aufgeschlagenen Buch.
    »Bravo Stangelberger!« rief sie (war sie etwa schon länger da, und hatte sie wirklich die letzten Worte verstanden?!). »Grüß Gott, Melzerich! Es gibt einen Roman des dänischen Märchendichters Andersen, ›Der Improvisator‹, den sollte dieser Stangelberger-Stangelhuber lesen. Was ist denn das für eine seltsame Konferenz und Conférence hier? Geniert Ihr euch denn garnicht? Ihr tut, als ob Ihr hier allein wäret!«
    Und damit kam sie herab. Mit der Anwesenheit anderer konnte Editha wieder nur sich selbst gemeint haben. Denn die Strudlhofstiege brachte es zu jener Zeit noch manchmal fertig, mitten im städtischen Verkehre völlig verlassen zwischen Sonnenkringeln und Blätterschatten zu liegen, jetzt schon zunehmend im Schatten, während das Erglühen der Abendpforte vom Ende der Gasse oben sonor durchbrach.
    Sie gingen die Stiegen mit Editha wieder hinab. In Melzer wollte sich's durchaus nicht beruhigen, es schoß und fädelte in ihm durcheinander, drängte von innen her gegen den Mund; er war gar nicht so weit davon entfernt, jetzt Editha geradewegs anzureden und sie ›des Gewesenen zu gemahnen‹. Stangeler machte einen gänzlich unbeschwerten Eindruck, er schlenderte an Edithas linker Seite, Hände in den Hosentaschen, den Hut im Genick. Auf Melzer wirkte diese Haltung René's in irgendeiner Weise aufrührend, fast war ihm

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